«

»

Meller Golyzniak Duda / Breaking Habits – CD-Review

Die Welt ist im Wandel!

Was schon in Tolkiens "Herr Der Ringe" zitiert wurde, gilt auch und ganz besonders für die polnische Rockmusik in diesem Jahr. Und das traf im Frühjahr erst einmal sehr traurig und erschütternd zu, als Piotr Grudzinski, der Gitarrist von Riverside so plötzlich und viel zu früh verstarb. Dass nun zum Ende des Jahres ein ganz anderer, sehr viel erfreulicherer Paukenschlag von unseren östlichen Nachbarn zu vernehmen ist, verdanken wir der Tatsache, dass sich drei Arrivierte des polnischen Rocks zu einer Art Soupergroup zusammengefunden haben, nämlich Maciej Meller von Quidam, Maciej Golyzniak, früher Sorry Boys, Brodka und Natalia Nykiel sowie Mariusz Duda von Riverside und Lunatic Soul.

Sie alle führen an, ihre gewohnten Welten verlassen zu haben, um gemeinsam etwas völlig Neues zu schaffen. "Breaking Habits", Gewohnheiten brechen. Man möge mir verzeihen, dass ich bei den Querverweisen immer wieder mal auf die für mich so prägende und sehr verehrte Band Riverside verweise. Als ein typischer Vertreter der polnischen Neo-Prog-Szene sollten sie ein guter Indikator sein, um den Veränderungsprozess in der Musik dieses Albums deutlich zu machen.

"Birds Of Prey" beginnt mit klassischem Riverside Gesang, der hier und da einige Samples ausatmet. Ein Schlagzeug geprägter Song treibt uns mit sägenden Gitarren in ein rhythmisches Imperium, welches permanent pulsiert und wechselt. Fast schon schmerzhaft schrille Licks jagen verwegene Drum-Schläge durch die Sphären. Wow, hier wurde etwas wirklich Neues geschaffen, das macht schon nach der ersten Nummer ganz viel Lust auf mehr.

Und "Feet On The Desk" lässt uns nicht lange warten. In einem Stoner und Blues getriebenen Kapellensound groovt sich die Band scheinbar selbst hüstelnd in eine Rauch geschwärzte Behausung, zieht uns hinein in einen Modus von Schwaden und nebulösen Auswüchsen – eine düster bedrückende Atmosphäre, bis die Musik in einem plötzlichen und schönen Outbreak eskaliert. Der wirklich knallharte Grundrhythmus mit einem Nerven spannenden Bass duelliert sich mit einer fast Floyd´schen, düster kreisenden Gitarre, die einem Alptraum aus "Echoes" entwachsen sein könnte. Aber dann zieht das Tempo an und irgendwann vibrieren dir fast die Schlagadern, derart intensiv saugen dich die Tieftöner durch diesen Song.

Spätestens jetzt hat man sich von den melancholisch, verträumten Soundlandschaften aus der Riverside-Ära verabschiedet. Nein, "Breaking Habits", der Titel des Albums ist absolut wörtlich zu nehmen. Hier wird tatsächlich mit alten Gewohnheiten gebrochen.

Ein plötzlicher Stimmungswechsel hinein in ein Red Hot Chili Peppers anmutendes Thema, wo man erstmals einen Funken von Harmonie zu suchen versucht wird. "Shapeshifter" ist ein erstes Friedensangebot für den bislang schwer geforderten Prog-Rocker auf einem ungewohnten Terrain. Sehr schön kreiselt wieder die Gitarre über den hinterhältig stockenden Rhythmen. Dem Fan wird es eine Wonne sein.

Und dann kommt plötzlich ein Anflug von Artrock über uns? Schon lange sind mir auf diesem wirklich atemraubenden Trip die herrlichen Exzesse eines David Sylvian in den Sinn gekommen, der mit seiner perfekt schrägen Gitarre stets rhythmisch verwegene Grundlagen und faszinierend filigrane Solo-Attacken zu verschmelzen verstand. Hier im Titelstück ist es die Gitarre, die ihre Kameraden in einem hypnotischen Sog mitzieht und rotieren lässt. Ein schönes Beispiel dafür, wie die Treiber wechseln und der Sound am Ende dennoch stimmig bleiben kann.

Bei drei Instrumenten muss man eh nicht nach dem Leader suchen, wenn da einer auslässt, stirbt das Ganze schneller als man Piep sagen kann. Aber Meller, Golyzniak, Duda sind wahrlich verdammt gut aufeinander eingestellt, da spielt man sich die Bälle mit einem Tempo zu, wie ich es mir von meinem Fußball-Verein gerne wünschen würde.

In Polen waren in den letzten Jahren vor allem Vertreter klassisch neo-progressiver Orientierung sehr beliebt und erfolgreich, und selbst die eigentlich aus dem Metal entwachsenen Musiker von Riverside folgten einst diesem Weg. Doch auf "Breaking Habits" gehen wir hier einen anderen, neuen und alles andere als geradlinigen Weg. Ecken und Kanten sind da bewusst eingebaut, Umwege zielführend eingestellt. Du sollst dir niemals deiner Sache sicher sein, das Leben ist voller Überraschungen.

Und dann nehmen sie uns auf in dem bombastischen "Tattoo" mit Mariusz Dudas wunderbar ausdrucksvollem Gesang wie aus alten Tagen und einer Gitarre, die über den virtuos wechselnden, aber stets vorwärts orientierten Rhythmen experimentiert, sich selbst aber immer wieder in schönen, repetierenden Riffs einfängt.

Noch einmal mag man Mariusz Duda in seiner alten Heimat wähnen, wenn er sich in "Floating Over" eindreht. Hier klingen Riverside nahe wie kaum zuvor. Der wunderschön schräge Refrain gibt dem Song Seele, und eine effektbehaftete Gitarre schrammelt eine Weile im Hintergrund, um dann Gilmour beflügelt abzufliegen. Einbrechende Riffs halten uns auf Trab. Alles schön im Wechsel. Ein artrockiges Solo saugt am Ende hypnotisch unsere Moleküle auf und kulminiert psychedelisch in außerirdischen Rotationen. Mal druckvoll intensiv, dann wieder zurückgenommen pointierend, während die Tempoabteilung im Hintergrund einen weit ausholend, langgezogenen Weg geht.

Am Ende instrumentalisiert sich das Projekt in einer ausufernden, alles andere als geradlinigen progressiven Jam, die ab und an klingt, als wolle man Jimi Hendrix' "Third Stone From The Sun" herauf beschwören.

Das ist kein klassischer Prog, das ist eine geniale Verknüpfung bester Ausdrucksformen für Gitarren, Bass, Schlagzeug, Gesang. Powertrio völlig anders, vertrackt und doch voller fließender Energie, die gefangen nimmt und mitreißt. Musik, die sich entwickeln darf, die nicht vom Reißbrett stammt. Denn so ist das Album auch entstanden, oldschool, spontan und improvisiert. Was dabei heraus gekommen ist? Nichts anderes als eine der größten Überraschungen dieses Jahres in meinem Player, Musik ohne Grenzen, eine unbedingte Empfehlung für jeden, der sich vor musikalischen Experimenten nicht fürchtet.
Eine großartige Platte.


Line-up Meller, Golyzniak, Duda:

Maciej Meller (guitar)
Maciej Golyzniak (drums)
Mariusz Duda (bass, vocals)

Tracklist Breaking Habits:

  1. Birds Of Prey
  2. Feet On The Desk
  3. Shapeshifter
  4. Breaking Habits
  5. Against The Tide
  6. Tattoo
  7. Floating Over
  8. Into The Wild

Gesamtspielzeit: 43:35, Erscheinungsjahr: 2016

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

Beiträge im RockTimes-Archiv

Über mich

News

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>