Gerade in der progressiven Musik muss man sich manches Album erst erarbeiten, bevor man den Zugang findet. Das gilt besonders, wenn Musiker sich so unverschämt lässig von bekannten Mustern und Strukturen, von Stilen und Richtungen distanzieren und schlicht und einfach ihr eigenes Ding machen. Es ist nicht vermessen, wenn man der Band Nanaue genau diese Eigenschaften zuschreibt, werben sie doch selbst damit, auf ein besonders kreatives Songwriting zu setzen. Nanaue sind die Multiinstrumentalisten Emiliano Deferrari und Matteo Nahum, deren Domizil aber entgegen den italienischen Wurzeln anscheinend in Spanien zu liegen scheinen – so ganz lässt sich das Internet nicht dazu aus.
Die Musik lebt zum einen aus der bereits erwähnten Individualität und Eigenständigkeit, wird darin noch verstärkt durch den Einsatz klassischer Instrumente und orchestraler Passagen, was der ohnehin sehr warmen und positiven Atmosphäre der Musik sehr guttut. Aber keine Sorge, es geht keineswegs getragen daher, das Album bietet immer wieder temporeiche Nummern, die dem einen oder anderen Assoziationen erwachsen lässt, die kein Mensch hier erwarten würde. So haben die Mainlines in "Che Boludo" fast ein wenig von der Anarchie der Who. Krass.
Bereits in der ersten Nummer, "Summwhere", gibt es eine frische jazzige Passage, während im weiteren Verlauf immer wieder mal harmonische Elemente in den Vordergrund treten, die man von Genesis kennt. Auch melodische Motive aus dem Canterbury-Sound mag man gelegentlich verorten, aber insgesamt sind das nur kurze Sternschnuppen, wo man versucht ist, sich in der Welt des Prog zu orientieren. Insgesamt darf man als Schreiberling hier getrost auf die allseits beliebten Vergleiche verzichten, Nanaue setzt sich dezent über solche bekannten Standarts hinweg und überrascht beispielsweise in "Lancashire" mit einem Bluegrass-ähnlichen Rahmenprogramm. Hier vermitteln sie mir tatsächlich ein wenig Verankerung, weil ich solche musikalischen Anleihen auch bei der Neal Morse Band schon gehört habe. Doch wo dort Eric Gillette mit krachenden Riffs und metallischen Licks für Krawall sorgt, gibt es hier Orchester und eine Gilmour’sche Reduktion, etwa wie auf "Meddle".
Wie gesagt, solche Vergleiche hinken, sollen lediglich helfen, die verschiedenen Fleckerl ein wenig verständlicher zu machen. Ja, das Album hat insgesamt ein wenig von einem Fleckerlteppich, wie die Bayern ihre schlichten bunten Stoffteppiche nennen. Patchwork würde es auch treffen. Die Musik ist eindeutig auf den jeweiligen Song tariert, jede Nummer für sich entfaltet ein völlig anderes Stimmungsbild als seine Vorgänger. Und das ist eine große Stärke, denn wir werden in eine Welt entführt, wo es viel zu entdecken gibt. Dennoch scheinen die Songs in einem Konzept miteinander verbunden. Faszinierend, wie sehr sich die Instrumentalisten hier in einem Teamgedanken unterordnen, man hat niemals das Gefühl, dass irgendwer in den Vordergrund drängen möchte. Alles dient der Soundmalerei, der Stimmung. Doch auch fette Soli werden noch kommen.
Wenn Part 2 mit "Daybreak" eingeleitet wird, treffen sich Sounds wie aus einer Filmmusik mit schicken poppigen Refrains, die modernen Hit-orientierteren Bands gut zu Gesicht stehen würden. "Devil’s Lighter" mit seinem fesselnden symphonischen Intro wächst zu einer aggressiv bedrohlichen Eskalation heran, die düsterste Nummer bislang, die aber durch den grandiosen und sehr emphatischen Gesang von Emiliano sehr humanistisch gegenhält. Genau dieser sanfte, menschliche Flow geht über in die nächste Nummer, "What Has Left", mit schönem Piano und die elegant begleitende Gitarre darf dann berechtigt ein wenig an Steve Hackett erinnern. Was an dieser Stelle unbedingt auch erwähnt werden sollte: Die Keyboards fungieren während des gesamten Albums absolut virtuos und tragend für die Entwicklung der Harmonien und beschränken sich keineswegs, wie häufiger im progressiven Rock, auf schwelgend schwebende Klangteppiche ohne Akzentuierung. Nein, diese Musik lebt in all ihren Bestandteilen, jederzeit und überall, schmückendes Beiwerk werden wir nicht finden.
"Confident Boy" ist die erste Single und Vorabveröffentlichung des Albums, das Video läuft bereits auf den einschlägigen Plattformen. Eine durchaus rockgetriebene Nummer mit einem klassisch hardrockenden Gitarrensolo. Der Drift und die Dynamik sind Klasse, zum Ende hin wird es geradezu ekstatisch. "The Blind, The Deaf" ist ein typisches Finale für ein Prog-Album. Getragen, dramatisch und mit einem faszinierenden Solo auf der Gitarre, wenigstens hier bleiben sie in der Tradition des erweiterten Genres. Die Nummer hat Gänsehautkonfiguration. Das kurze Titelstück zum Ende hin hat etwas von rituellen Gesängen, ein ethnologischer Abschluss am Ende einer faszinierenden Reise durch eine hoch emotionale Welt. Wie schreiben die Musiker selbst sinngemäß auf ihrer Bandcamp-Seite: »Wenn Ihr denn unbedingt einen kurzen und treffenden Namen für unsere Musik sucht, dann nennt es einfach Art Rock.« Na also, hätten wir das auch geklärt.
Wer sich für die Herkunft des Albumtitels interessiert, der nicht sogleich einen Aha-Effekt im Verständnis des einen oder anderen Zuhörers finden mag, dem sei ein Blick auf das Plattencover der Beatles zu "Abbey Road" empfohlen. Klar, da sind die vier Pilzköppe auf dem Zebrastreifen, aber was ist mit dem Käfer im Hintergrund? Schaut mal auf das Kennzeichen."28IF". Aus dem Kürzel wollten damals selbsternannte Seher übrigens ein frühes Ableben des Herrn McCartney erahnen, der bekanntlich immer noch unter uns weilt. 28IF wurde zu einem Synonym dafür, das Dinge eben meist das sind, was man daraus interpretieren will. Die Welt ist subjektiv. Was war gemeint, was folgerten die Menschen daraus? Was ist richtig, was ist falsch? Eigentlich ein wunderschönes Angebot einer Band, die sich auf derart eigenen Pfaden bewegt, auch an uns Schreibende. Was ist die Wahrheit hinter all dem, was wir gerade gehört haben? Dass, was die Band spielt, das was wir hören und darüber schreiben? Wie schön, dass da jeder seine eigene Wahrheit besitzt. Mir hat diese Art des Art Rock der musikalischen Geschichtenerzähler gefallen, richtig gut sogar.
Line-up Nanaue:
Emiliano Deferrari (vocals, guitar, bass))
Matteo Nahum (piano, keyboards, guitar, programming)
With:
Alessandro Inolti (drums)
Marco Machera (bass)
Daniele Pinceti (bass)
Laura Navarri (violin)
Stefano Cabrera (cello)
Magdalena Martinez Marco (flute)
Ana Rivera Aguirre (English horn)
Alba Gonzáles Ruiz (bassoon)
Cecilio Vilar Alpuente (clarinet)
Elisa Montaldo (piano)
Maurizio Floris (alto & bass saxophone)
Emanuele Contis (tenor saxophone)
Adriano Sarais (trumpet)
Christian Marras (bass)
Tracklist "28IF":
- part 1: Summwhere
- Sumac Said
- Down The Rabbit Hole
- Che Boludo
- The Shortest Story
- Lancashire
- part 2: Daybreak
- Devil’s Lighter
- What Is Left
- Instrumental
- Confident Boy
- The Blind, The Deaf
- 28IF
Gesamtspielzeit: 54:23, Erscheinungsjahr: 2021
1 Kommentar
Matteo Nahum
21. Juni 2022 um 23:54 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
We really appreciate the careful listening that you have dedicated to our work.
This is rare and highly appreciated.
Matteo from Nanaue