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Glasgow Coma Scale / Enter Oblivion – CD-Review

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Die Frankfurter Instrumental-Band Glasgow Coma Scale, benannt nach einer in der Psychiatrie verwendeten medizinischen Skala für Bewusstseinsstörungen, wird ihrer Hauptausrichtung nach im Netz als Post Rock-Band geführt. Aha, dachte ich mir mit einigen Mogwai-Scheiben im Hinterkopf, das könnte eine recht entspannt dahingroovende Erfahrung werden. Und dann? Holla die Waldfee – hier geht nicht die Post, hier geht der Post Rock ab, und das gewaltig. Genretypische Gitarrenschleifen wechseln mit krachenden Riffs, hier scheint jemand nicht nur aus seiner eigenen Szene heraus zu operieren, da schwingt auch ein gutes Stück Monkey 3 mit deren irren Steigerungsläufen und manchmal auch ein bisschen Porcupine Tree mit. Na das ist mal ein Auftakt, davon möchte ich bitte mehr hören.

"Southern Crosses" ist dem Vernehmen nach in Berlin geschrieben worden, dort wo mein Arbeitgeber erst vor kurzer Zeit den Bahnhof Berlin Südkreuz mit Hochglanz errichtet hat. Ganz in der Nähe dieses Bahnhofs befindet sich ein Friedhof, und inmitten dieses Friedhofs steht der Proberaum, wo die Band die Nummer ersann. Coole Story für ein geiles Stück Musik. Ganz davon abgesehen überzeugt der Song mit seiner spartanisch, meditativen Struktur, die ein paar Erinnerungen an das legendäre "Jack" von den schon zitierten Lieblingsschweizern aufkommen lässt. Herrlich, wenn die Band aus dem kurzen, geheimnisvollen Break noch einmal den Turbo zündet. Atemlos bis ins Ziel.

Und noch ein Flashback schon in der nächsten Nummer "Northern Wastes". Der Auftakt klingt mit seiner puristischen Gitarre und dem hypnotischen Bass tatsächlich ganz ausdrücklich nach My Sleeping Karma; Aschaffenburg und Frankfurt vereint. Ist ja auch nicht allzu weit voneinander entfernt. Diesen Pfad der Freundschaft verlassen unsere Frankfurter erst zum Ende des Songs, wenn der postrockige Einfluss sich letztlich durchsetzt.

Glasgow Coma Scale

Glasgow Coma Scale

Die Band besitzt die faszinierende Fähigkeit, innerhalb eines Stücks die Klangfarbe fast unmerklich, doch nachhaltig zu wechseln. Wenn aus einem mystischen Elektronikschnipsel der Song "Venice Calling" startet, klingt das stark nach Ambient und fast ein wenig poppig, doch durch gefühlvollen Umgang mit Intensität, Spannungsaufbau und Druck entwickelt sich daraus ganz schnell eine hoch energetische Powernummer, macht- und kraftvoll, mitreißend und ekstatisch. Ganz wunderbar entwickelt sich das Thema in kreiselnden repetitiven Gitarren in immer höhere Sphären und öffnet deinen Geist. Na wenn das mal keine bewusstseinserweiternde Droge ist – nein, das ist einfach nur gute Musik.

Ausgedehnte ambiente Soundspielereien leiten in "Silent Bird" zunächst in postrockige Phrasierung, führen dann aber sehr meditativ in glasklar und fein ziseliert zeichnende Gitarrenklänge. Zum Ende werden dann die Daumenschrauben immer weiter angezogen und das Hauptthema löst ganz allmählich bewusste Wahrnehmung auf und dringt tief in dein Innerstes. Eine schöne Metapher auf den Bandnamen und den psychologischen Themenkreis, egal, ob das nun so gewollt ist oder nicht. Mit "Birthland" klingt das Album im Vergleich zu den riffgeprägten Attacken zu Beginn ebenfalls eher sphärisch groovend aus. Gerade diese letzten beiden Nummern verströmen eine starke, suggestive Kraft, lassen Bilder und Landschaften in den eigenen Gehirnwindungen erwachsen. Bewusstseinserweiterung auf Notenbasis und ohne merkwürdige Substanzen.

Diese Platte ist die erste große Überraschung im neuen Jahr für mich, sehr schöne Musik, die in sich stimmig melodische Themen stilübergreifend mit knallharten Ausbrüchen kombiniert; Musik, die ihre Verwandtschaft nicht verleugnet, aber dennoch einen hohen Grad an Authentizität und Wiedererkennungswert garantiert. "Enter Oblivion", also 'die Vergessenheit betreten', ist ein Stück weit Programm, entstanden doch viele Ideen zu der Musik quasi im Bett und kurz vor dem Einschlafen. Piotr Kowalski beschreibt im Press-Kit, dass er diese Ideen in sein Handy singt, bevor sie womöglich für immer in Vergessenheit geraten. Das ist auch in sofern interessant, da vor ein paar Wochen Neal Morse in unserem Interview eine ganz ähnliche Vorgehensweise beschrieben hat., zumindest was das Speichermedium angeht.

Glasgow Coma Scale machen Lust auf mehr, darum mögen noch viele gute Ideen vor dem Einschlafen den Weg auf die Speicherkarte finden.


Line-up Glasgow Coma Scale:

Piotr Kowalski (guitar, soundscapes, programming)
Marek Kowalski (bass)
Helmes Bode (drums)

Tracklist "Enter Oblivion":

  1. Sonda
  2. Southern Crosses
  3. Northern Wastes
  4. Venice Calling
  5. Ghost Not Found
  6. Silent Bird
  7. Birthland

Gesamtspielzeit: 44:31, Erscheinungsjahr: 2016

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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