Nachdem die Rolling Stones im Jahr 2005 in Form von A Bigger Bang ihre letzte Scheibe mit Eigenkompositionen veröffentlicht hatten, hatte zumindest der Verfasser dieser Zeilen in den vergangenen zehn Jahren bereits die Hoffnung verloren, dass da tatsächlich noch mal was Neues kommt. Zwar tourte die Band mehr oder weniger regelmäßig und spielte neben dem üblichen 'Best of'-Programm manchmal sogar so spezielle wie willkommene Sonder-Shows und selbstverständlich kam vor ein paar Jahren auch die Blues-Platte "Blue And Lonesome". Dennoch ging der Glaube an ein neues Album mit Jagger/Richards-Kompositionen trotz immer wieder gestreuter anders lautender Meldungen langsam, aber sicher verloren. Dann waren im Sommer 2023 plötzlich immer häufiger auftauchende News über eine kurz bevorstehende Veröffentlichung zu lesen und am 20. Oktober 2023 war es schließlich soweit: "Hackney Diamonds", das neue Studioalbum der Rolling Stones mit – von einer Ausnahme abgesehen – eigenen Kompositionen erblickte das Licht der Welt.
Die Spannung war natürlich riesengroß, denn klar war auch, dass sich die Veteranen mit wenig überzeugendem Material selbst in den Fuß geschossen und den letzten Sargnagel eigenmächtig in die Band-Historie gehämmert hätten. Glücklicherweise kann jedoch bereits an dieser Stelle Entwarnung gegeben werden, denn was die Engländer (plus Gäste) hier abgeliefert haben, hätte ihnen in dieser hohen Qualität – inklusive der beinharten Fans – wohl niemand mehr zugetraut. Bezüglich der Besetzung fällt auf, dass Steve Jordan wie in den letzten Jahren den verstorbenen, the late great Charlie Watts (gut!) ersetzt und auch, dass die langjährigen Mitmusiker Darryl Jones am Bass sowie Chuck Leavell an den Tasten offensichtlich nicht mehr im Boot sind bzw. zumindest an diesen Aufnahmen nicht beteiligt waren. Matt Clifford an Piano und Keyboards ist dagegen nach wie vor am Start, der Rest wurde von Gastmusikern übernommen.
Und die Musik? Die Songs kommen überraschend frisch und spritzig sowie mit einer ungeahnten Power aus den Boxen, Mick Jaggers Gesang klingt unglaublich stark und powervoll für einen mittlerweile Achtzigjährigen und die Gitarren von Keith und Ronnie Wood glänzen einmal mehr durch starke Riffs, feurige Soli sowie einem nahezu perfekten Zusammenspiel, wie es nur über Jahrzehnte des gemeinsamen Zockens entstehen kann. Außer ein paar Rhythmus-Spuren von Jagger sowie Produzent Andrew Watt sind hier keine weiteren Gitarristen am Start. Die erste Single "Angry" ist ja bereits seit Wochen über die üblichen Plattformen abrufbar und hinterließ bereits einen ersten Eindruck. Ähnlich bzw. noch heftiger geht es bei dem Rocker "Bite My Head Off" zur Sache, bei dem Paul McCartney einen Gastbeitrag mit heftig verzerrtem Bass abliefert. Und obwohl, oder gerade weil es hier straight nach vorne geht, gelingt es der Band, dem Stück ihren einzigartigen Stempel aufzudrücken. Ein Powerhouse. Sämtliche vertretenen Songs – außer den an anderer Stelle genannten, insbesondere noch "Depending On You" sowie "Whole Wide World" – sind stark, dem Rezensenten geht lediglich der Refrain von "Mess It Up" tierisch auf den Zeiger, was aber lediglich an seinen persönlichen Geschmacksknospen liegen mag.
Selbstverständlich finden sich auch viele Eigen-Zitate bzw. Andeutungen an frühere Stücke. So erinnert das Riff zu Beginn von "Get Close" etwas an "Slave" (von "Tattoo You", 1981), beim Anfang von "Driving Me Too Hard" kommt umgehend "Tumbling Dice" (von Exile On Main Street, 1972) in den Sinn, "Dreamy Skies" verfügt über das etwa gleiche Outlaw Country-Feeling wie "Sweet Virginia" (ebenfalls von "Exile …") und die zweite Single-Auskopplung "Sweet Sounds Of Heaven" taucht noch einmal in die souligen Ausflüge der Band wie etwa auf "Sticky Fingers" oder dem bereits erwähnten "Exile …" ein. Wobei all dies mit einem gewissen Augenzwinkern erfolgt und sich die jeweiligen Tracks nach den Andeutungen sehr eigenständig entwickeln. Keith Richards hat die Lead Vocals für "Tell Me Straight" übernommen und liefert mit seiner knarzigen, trockenen, jedoch mit viel Seele und Herz vorgetragenen Überlieferung genau die Performance, wie man sie von ihm liebt. Wer nach wie vor über das gesangliche bzw. technische 'Können' eines Keith Richards schimpft, der kann nur bereits in den allerersten Klassen der Rock’n’Roll-Grundschule mehrfach sitzen geblieben sein.
Und die prominenten Gäste? Sind eigentlich mehr oder weniger nettes Beiwerk, das die Band auf dieser Scheibe allerdings gar nicht nötig gehabt hätte. Klar ist es cool, den Beiträgen von McCartney und Elton John zu lauschen, etwas eindrucksvoller kommt da jedoch noch Stevie Wonders Piano auf "Sweet Sounds …". Benmont Tench an der Hammond ist wie immer eine Bank, den wohl eindringlichsten Gast-Part hat jedoch Lady Gaga abgeliefert, die Jagger auf dem letztgenannten Song durchaus stark begleitet und ergänzt. Klar, wir haben es hier nicht mit einer Merry Clayton oder Kathi McDonald zu tun, dennoch eine sehr geglückte Leistung zu einem Song, der dem Verfasser durch seine sich ständig steigernde Intensität durchaus die eine oder andere Gänsehaut beschert hat.
Die Stones klingen auf ihrer neuen Platte in allererster Linie nach sich selbst, ohne – wie Jagger das gerne und oft in der Vergangenheit getan hat – sich aktuell angesagten Sounds anzupassen bzw. diese in die Songs mit-einzubauen. Die für die Band so markanten 'offenen' Akkorde von Richards sind (möglicherweise wegen seiner Arthrose) nicht mehr ganz so dominant, aber sie sind immer noch da. Letzlich muss man auch dem Produzenten Andrew Watt ein dickes Lob aussprechen, der es geschafft hat, den Sound der Band ohne große Egomanismen einzufangen. Schmunzelnd darf an dieser Stelle aber auch die Frage gestellt werden, ob er diesbezüglich gegenüber einem Mick Jagger oder Keith Richards überhaupt den Funken einer Chance gehabt hätte. Und wer war Schuld an den mittlerweile mehr als sechzig Jahren Rolling Stones? Genau, unter anderem Muddy Waters, dessen Song "Rollin' Stone Blues" der Namensgeber der Briten war. Genau diese Nummer wird von Mick (Blues Harp und Gesang) sowie Keith (Akustik-Gitarre) zum Abschluss der Scheibe dann nochmal gebracht.
Endet also alles damit, womit es begonnen hat? Nach dem wiederholten Genuss von "Hackney Diamonds" kann man nur hoffen, dass dem nicht so ist. Denn letzten Endes ist es vollkommen egal, ob die beteiligten Hauptakteure sechzig, siebzig, achtzig oder einhundert Jahre alt sind. In dieser Form und der Qualität dieses Albums sind die Rolling Stones nach wie vor relevant! Und zwar noch viel mehr, als sie dies in den letzten 15 Jahren waren. Laut Aussage der Musiker haben sie insgesamt 23 Stücke aufgenommen, weshalb sie also zweifelsohne noch jede Menge Material in der Hinterhand haben. Welchen Stand sich "Hackney Diamonds" im Gesamt-Katalog der Band erarbeiten wird, kann natürlich nur die Zeit zeigen. In der Frische des Moments kann den Stones jedoch zweifelsfrei bescheinigt werden, ein grandioses Spätwerk abgeliefert zu haben! Wen interessiert da schon das eher verunglückte Cover bzw. Art Work?
Line-up The Rolling Stones:
Mick Jagger (guitars, harmonica, percussion, lead & background vocals)
Keith Richards (lead & rhythm guitars, bass, piano, background vocals, lead vocals – #10)
Ronnie Wood (lead & rhythm guitars, bass, background vocals)
With:
Steve Jordan (drums – #1-6,9-12)
Charlie Watts (drums – #7,8)
Andrew Watt (bass – #2,5,7,11 Wurlitzer piano – #2, guitar – #3,7,keyboards – #7, percussion, background vocals)
Paul McCartney (bass – #4)
Bill Wyman (bass – #8)
Matt Clifford (piano – #1,3-7,9,10, keyboards – #5,7, organ – # 9, B3 organ – #11)
Elton John (piano – #2,8)
Benmont Tench (Hammond organ – #3,6)
Stevie Wonder (piano & Rhodes – #11)
James King (saxophone – #2,11)
Ron Blake (trumpet – #2,11)
Karlos Edwards (percussion – #2,7)
Charlie Bisharat (violin – #3)
Songa Lee (violin – #3)
Alyssa Park (violin – #3)
Sara Parkins (violin – #3)
Michele Richards (violin – #3)
Tereza Stanislov (violin – #3)
Jennifer Takamatsu (violin – #3)
Philip Valman (violin – #3)
Luke Maurer (viola – #3)
Tom Lee (viola – #3)
Jacob Brown (cello – #3)
Paula Hochhalter ( cello – #3)
Lady Gaga (vocals – #11)
Tracklist "Hackney Diamonds":
- Angry
- Get Close
- Depending On You
- Bite My Head Off
- Whole Wide World
- Dreamy Skies
- Mess It Up
- Live By The Sword
- Driving Me Too Hard
- Tell Me Straight
- Sweet Sounds Of Heaven
- Rolling Stone Blues
Gesamtspielzeit: 48:33, Erscheinungsjahr: 2023
8 Kommentare
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Roland Goergen
18. Juni 2024 um 13:17 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
hi Markus,
ich bin ganz und gar Deiner Meinung!
Die Stones haben mit dieser LP (ich habe sie in Vinyl und für´s Auto die CD) die modernste "60er" Platte kreiert!!
Die Achtziger Stones gingen, trotz zugegebener Maßen guter Songs, an mir vorbei.
Hackney Diamonds vermittelt endlich wieder das typische Rolling Stone Feeling und das trotz all den neuen Soundmöglichkeiten, die es heute gibt.
Ich liebe diese Platte!!
groovy greetings
Roland
Manni
9. November 2023 um 21:39 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Markus,
ich nehm mal einen Satz deines Fazits: In der Frische des Moments kann den Stones jedoch zweifelsfrei bescheinigt werden, ein grandioses Spätwerk abgeliefert zu haben!>/i>
Das kann man so sehen. Für mich ist die Frische des Moments nach mehr als zehnmaligem Hören vorbei. Auch diese Platte der Stones werde ich sicher nicht öfter hören (sprich: überhaupt nicht) als ihre Alben ab den 80ern. Ich hatte mal überlegt, einen Sampler aus den besten Songs seitdem zu machen, aber was wären die besten Songs? Würde es mir Spass machen, die zu hören? Forget it.
Mal ehrlich: Wäre "Hackney Diamonds" die Platte einer neuen Band namens "The Stoning Rolls", sie würde untergehen, niemand würde Kenntnis nehmen, wie es leider bei den zahlreichen Interpreten/Bands jeden Jahres ist, die auf der selben Wiese grasen. Die sind nicht schlechter, aber oft deutlich anmachender/musikalischer. Wenn ich 2023er Platten höre – als Beispiel von der Band "Albany Down" oder des guten "Ashley Sherlock", höre ich keine statische Langeweile, wie sie die Stones hier mal wieder produzierten.
"Damals war alles besser", dieser abschlägig bewertete Ausdruck, hat trotz dessen einen wahren Kern. Der findet sich im Fall der Stones zum einen bei Brian Jones und zum anderen bei Mick Taylor. Ich liebe "meine Stones", als sie noch die Stones waren. Vor fünf Jahrzehnten.
NB:
Charlie Watts und Bill Wyman hätte man als Ur-Stones bei den Bandmitgliedern einsortieren müssen, zumindest aber in einer anderen Kategorie als "with", was sowas ist wie "unter ferner liefen".
Markus Kerren
10. November 2023 um 15:56 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hi Manni,
klar zehren und profitieren die Stones von ihrem Namen, den sie sich in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens hart erarbeitet haben. Und klar ist auch, dass "meine' Stones ebenfalls die von Mitte der Sechziger bis Mitte der Siebziger (speziell die Jahre von 1968 – 1972) sind. Einen richtig geilen Sampler für mich (also für MEINEN Geschmack) würde ich aber auch ab den Alben der Achtziger locker hinkriegen und gerne hören. Und "Hackney Diamonds" gefällt mir auch nach geschätzten 20 bis 25 Durchläufen immer noch sehr gut. Dass das Alles wg. Altersgründen und der sich entwickelnden Technologie heute anders klingt, sollte aber jedem eigentlich von vornherein klar gewesen sein.
Aber ist doch gut, dass da jeder seine eigene Meinung hat und Platten, die man nicht hören will (geht mir beispielsweise bei beispielsweise "Undercover" so), MUSS man sich ja auch nicht anhören.
Manni
11. November 2023 um 17:50 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Markus,
in Sachen Stones sitzen wir unter dem Strich im selben Boot und rudern in die gleiche Richtung (von BB bis EOMS)
Georg Reuters
1. November 2023 um 15:26 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Wer spielt denn den Bass bei #1,3,9,10 ,wenn es nicht Darryl Jones ist?
Markus Kerren
1. November 2023 um 15:39 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hi Georg,
bei einem Blick auf’s Line-up kann man feststellen, dass auch Keith und Ronnie (wie schon auf so vielen Stones-Alben in der Vergangenheit) hier und da den Bass übernommen haben. Nur ist im Booklet leider nicht dargestellt, wer von den beiden bei den von dir angesprochenen Songs jeweils aktiv war. Sonst hätte ich das selbstverständlich im Line-up unterm Review festgehalten.
Elmar Sutter
1. November 2023 um 9:20 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hallo Markus
Interessante Info betreffend mitwirkende Streichmusiker auf "Depending on you". Hätte gerne die Quelle dazu, da ich im Netz dazu bis jetzt nichts gefunden habe.
Uebrigens: Geht mir genau gleich mit dem Refrian….:-).
Beste Grüsse
Elmar
Markus Kerren
1. November 2023 um 12:54 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hi Elmar,
ich tippe mal, dass du die Platte bisher ’nur' digital genossen hast. Die Streichmusiker bei "Depending On You" sind ganz normal im CD- (und ich geh mal davon aus, auch im LP-) Booklet aufgeführt. Bereits mehrere Freunde/Bekannte haben berichtet, dass der Vinyl-Sound bei diesem Album allen anderen Formaten weit überlegen ist. Aber klar, bei 37 Euronen fällt die Entscheidung niemandem so ganz leicht…
Viele Grüße,
Markus