Peter Wicke / Rammstein – Provokation als Gesamtkunstwerk – Buch-Review

Sie gelten nach wie vor als Deutschlands derzeit erfolgreichster Rockexport und leugnen dabei keineswegs ihre ostdeutsche Herkunft: Die Musiker von Rammstein. Denn dort haben sie ihre Wurzeln, musikalisch und sozial. »Ohne die DDR gäbe es uns genauso wenig wie ohne den Westen. Wir sind ein Zwei-Komponenten-Gebilde«, bringt es Gitarrist Paul Landers mit einem Augenzwinkern auf den Punkt. Was vielleicht nicht jedem Musikliebhaber auf Anhieb bekannt sein dürfte: Die 1994 von Musikern aus Schwerin und (Ost-)Berlin gegründete Band besteht noch immer in ihrer Gründungsformation. Das ist ebenso einzigartig wie jenes Konzept, das die Rocker seit Beginn auf der Bühne und im Studio verfolgen.

»Gesamtkunstwerk« nennen sie selbst als Gruppe ihr Auftreten in allen denkbaren Facetten. Musikwissenschaftler und Autor Peter Wicke hat diesen Begriff aufgegriffen und daraus seinen Buchtitel entworfen: "Provokation als Gesamtkunstwerk." Peter Wicke ist ein profunder Kenner der Szene, doch sein Gebiet waren eher die Entwicklungen der Rock- und Popmusik allgemein. Insofern feiert er mit dem vorliegenden Stoff eine beachtliche Premiere.

Schon daraus sollte deutlich werden, dass das Motto "Provokation als Gesamtkunstwerk" bereits seit 30 Jahren fester Bestandteil der Rammstein-Lebenswelt ist und nicht erst seit der unsäglichen Hetzjagd gegen Sänger Till Lindemann im Sommer 2023 durch die sogenannten Qualitätsmedien. Genau diesen Begriff verwendet der Autor, als er auf die unsägliche Verdachtsberichterstattung durch Der Spiegel, Die Tageszeitung & Co. bis zur Einmischung durch Politikerinnen (Claudia Roth, Bündnis 90, Die Grünen, deutsche Staatsministerin für Kultur und Medien) eingeht. Hintergrund waren damals die laut Wicke »veröffentlichten Behauptungen«, die »seitenweise nachgerade ungeheuerlichen Vorgänge« rund um den Frontmann der Band. Beschuldigungen bezogen sich auf angebliche Vorfälle in den Stadiongarderoben nach Konzertende. Was damals völlig untergegangen war: Sogenannte Tweets, in denen beispielsweise eine nordirische Besucherin behauptet hatte, Sänger Till Lindemann hätte ihr ein Betäubungsmittel verabreicht, waren noch lange Gegenstand der Berichterstattung, als die unbewiesenen Inhalte längst im Netz gelöscht waren.

»Die Band ist damit mitten in die woken Kulturkämpfe der Gegenwart geraten. Sie wird von einem Teil vor allem der deutschen Medien regelmäßig mit diffamierenden Kommentaren bedacht, von ihrer in die Millionen gehenden weltweiten Fangemeinde frenetisch bejubelt, aber nur selten wird ihr mit der gebotenen Ernsthaftigkeit begegnet«, heißt es im Vorwort des Autors, der seine Arbeit den gesamten 30 Jahren des Bestehens der Band widmet. Für die Ernsthaftigkeit in "Provokation als Gesamtkunstwerk" sorgen allen voran die Musiker mit ihren Zitaten.

Zum Vorwort kann man Peter Wicke nur gratulieren. Zu den Vorgängen im Konzertsommer 2023 nennt er Namen der Medien und lässt Zitate sprechen. Vor gut einem Jahr entwickelte sich daraus ein Medienskandal mit Umtrieben, der ohne Beispiel ist. Rammstein tragen mit ihrer Provokation dazu bei, dass Missverstände aufkommen müssen. Leadgitarrist Richard Kruspe: »Diese Umsetzung auf der Bühne mit Kostümen, Pyro, Licht, dieses Gesamtkunstwerk, wird von Journalisten oft missverstanden.«

Ja, es wird missverstanden, aber oft genug auch falsch benutzt, sodass die sechs Musiker, die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Punk der DDR mehr links eingestuft werden müssten, oft genug in die braune Ecke gerückt wurden, ohne handfeste Belege. Unbeirrt ziehen Rammstein bis heute ihre Kreise. Folglich geht es hier nicht nur um ein erfolgreiches Gesamtkunstwerk, sondern zugleich um die Charakteristik eines gut funktionierenden Ensembles, das mit seinen harten Gitarrenriffs, den prägenden Keyboardfiguren und den in einer hohen Genauigkeit gespielten Drums für Genrevielfakt aus Neuer Deutscher Härte, »Tanz Metal« und Industrial steht. Die Kombination aus Musik und atemberaubender Show betreffend, fasst Rhythmusgitarrist Paul Landers wie folgt zusammen: »Es ist unser Job schon immer gewesen, in den Tiefen des Menschen rumzuleuchten, Ecken zu beleuchten, die man so nicht kennt, die aber da sind.«

Peter Wicke leuchtet ebenfalls in all diese Tiefen und Winkel und drückte seine Erkenntnisse in einer einfachen Sprache aus. Auch gut: Das Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch, es ist vielmehr eine Momentaufnahme. Fans erfahren viel über die Entstehung von Alben sowie von strittigen bis abgelehnten Videos. Viele dieser Inhalte stammen aus den Anfängen von Rammstein. Überhaupt gibt es reichlich Informationen, die selbst für Rammstein-Fans neu sind.

Wicke lässt den Leser teilhaben an der Gedankenwelt seiner berühmten Protagonisten und wählte die Themen nach unterhaltsamen Aspekten aus. Er ist kein Anwalt der Band, aber er klärt in vielen Dingen auf, was noch dazu zu einem spannenden Verlauf führt – siehe Sommer 2023. Ein großes Dankeschön sage ich Peter Wicke, der den Leser auf eine 30-jährige Entdeckungsreise rund um eine erfolgreiche, polarisierende Band mitnimmt, viele Dinge beleuchtet und erhellt. So ist daraus ein ehrliches Buch entstanden. Die Entwicklung von Rammstein lässt vor allem eines erkennen: Hier agiert ein Künstlerensemble, das eines hat – einen Plan!