Endlich dreht sich der Plattenteller wieder und endlich liegt wie früher Unbekanntes, Neues zur Besprechung vor der Haustür – also nichts wie hinein in die Welt von Absence, einem Holländischen Powertrio, dem ich bislang noch nicht begegnet bin. Seltsamerweise löst die Bezeichnung Powertrio bei mir stets den gleichen Reflex aus: Aha, Blues- oder Hardrock also. Ich sollte schnell erkennen, dass die Wirklichkeit viel subtiler ist als mein spontanes Schubladendenken.
Auf geht’s mit "Gravy From Orderville", ohne jede Vorreden empfängt den gespannten Zuhörer ein fast martialisch treibender Rhythmus, ganz passend zum Songtitel "Slaughter". Jawohl, diese Stimme erinnert an den großen Jack Bruce, wie schon zu den früheren Werken von den Kollegen dargestellt. Klare Gitarrenläufe, sauber akzentuierte Bässe, treibende Beats, und nach einem melodisch kurzen Break ein schönes Solo voller Inspiration und Reinheit. Schon jetzt spüre ich ganz weit hinten im musikalischen Kleinhirn einen Aha-Effekt, der mich in eine gänzlich unerwartete Richtung drängen möchte. Und dann bei "Put On Hold", eine für mein Empfinden sehr ironische Selbstbetrachtung der Band (übersetzt: auf Eis gelegte Helden), die mich irgendwie an die Schelmereien eines Woody Allen erinnert und ein augenzwinkerndes Zitat aus David Bowies "Heroes" verwendet, kommen die Geister in meinem Kopf schon wieder hervor. Dieser fesselnde, mehrsprachige Gesang erinnert doch tatsächlich an Spock’s Beard – fürwahr eine klassische Prog Rock-Band. "The Healing Colours Of Sound" und "June" lassen grüßen.
Tatsächlich kann man schon bei diesem ersten Hördurchgang überaus progressive Strukturen und Passagen in den Songs von Absence konstatieren. Nun wird mir auch klar, dass mich der so riffgewaltige Einstieg in die Platte an Arenas krachenden "Contagion"-Opener "Witch Hunt" erinnern wollte, es dauerte nur einen Moment, bis bei mir dieser Groschen fiel. Schon im nächsten Song führt uns die Band dann in das wunderschön balladeske "Leave This Place" und unterstreicht ihre kompositorische Vielfalt. Besonders bewegt hier das Thema, eine nachdenkliche Metapher auf das Dasein und den Sinn des Lebens.
"Conspiracy" ist ein wichtiger Song mit einer sehr klaren Aussage über Selbstbetrug und der Verleugnung unbequemer Tatsachen. Eine Aufforderung, wach zu werden und mit den Realitäten zu leben – eben bevor Dir Gevatter Tod zwischen die Augen schießt und Du in einem erhofften Nirwana bemerkst, dass das mit dem Leben nach dem Tod gar nicht so gut funktioniert, wie Du Dir hast einreden lassen. Danke Jungs, für solche Texte!
Und dann ein getragenes, Mule verdächtiges Werk namens "Broken", mit einer traurigen Geschichte zweier Menschen und den schmerzvoll dunklen Verwirrungen ihres verwelkenden Lebens, mit berührenden Worten und einem ekstatischen und emotionalen Solo auf den Punkt gebracht. Gänsehaut ist garantiert.
Neugierig geworden besuche ich die Website der Band und lese, wie wenig sie sich um stilistische Einordnungen und Orientierungen scheren. Genau das vermitteln sie auch mit ihrer Musik. »Egal, ob wir klingen wie Queen oder The Tubes, Led Zeppelin oder Genesis…«, sagen sie. Touch down, da hab ich Euch! Wer solche (Nicht-)Vorbilder zumindest namentlich bemüht, der möchte mehr spielen als nur klassische Zwölftakter aus der Gründerzeit.
Die spielerische Vielfalt von Thomas Calis (Schlagzeug), Maarten Dekkers (Bass) und Piet van Tienen (Gitarre, Gesang), die nun schon seit 25 Jahren gemeinsam agieren, führt uns auch auf der zweiten Seite der Platte in verschiedene stilistische Abenteuer bei etwas verschärftem Tempo, kulminierend in der modernen kurzen Rock’n’Roll-Nummer "TLTBW", wo Bass und Drums mit aberwitzig virtuosen Breaks, fast wie ein Haken schlagender Feldhase im Eichsfeld, den natürlichen Drive des Songs brechen. Sehr cool. Ein synthesizerartig verfremdetes Gitarrensolo vermittelt in "Name Tags" einen Hauch von Artr Rock, während "Panic Button" einen funkigen Shuffle mit guter alter Wah Wah-Unterstützung kreiert. Aber den Höhepunkt sparen die drei Herren aus Nijmegen bis zum Schluss auf. "Insomnia" ist feiner Jam Rock und klingt, man möge es mir verzeihen, fast wie beim Meister Warren. Wirklich! Und der finalisierende Charakter des Themas muss um ein paar Ecken mit dem Finale von Floyds Dark Side Of The Moon verwandt sein.
Bei so vielen Vergleichen werden die "Unvergleichbaren" sich vermutlich köstlich amüsieren, aber letztlich bestätigt es nur ihre eigene These.
Bleibt allein der Titel des Albums zu ergründen. Orderville ist ein kleines verschlafenes Nest im Mormonenstaat Utah, in der Nähe des Mount Carmel und des Zion-Nationalparks. Hab ich nachgelesen. Namen, wie aus dem Religionsbuch. Wenn ich mir diese Terminologie im Zusammenhang mit den diversen Passagen der Songtexte anschaue, dann glaube ich, dass man die Spur der 'Soße aus Orderville' genau in diesem Dunstkreis suchen muss. Eine gewagte Interpretation? Ich weiß, aber für mich als praktizierenden Atheisten ein wohltuendes Erlebnis.
Das Album ist im Juni bei Keen Ear Records erschienen und wurde von Piet van Tienen produziert, der auch weitestgehend die beeindruckenden Texte geschrieben hat.
"Gravy From Orderville" ist ein durch und durch ehrliches und eigenständiges Stück gitarrenorientierter Rockmusik mit elf kompakten Kompositionen, irgendwo zwischen melodischem Hard Rock und allerlei progressiven Eskapaden. Musik, die auf der puren Basis von Schlagzeug, Bass, Gitarre auf jederlei zusätzlichen Schnickschnack gut verzichten kann. Und die Texte sind wirklich Klasse, allein über die gesellschaftspolitischen Hintergründe zu Nummern wie "Cold War" oder "Disagree" könnte man trefflich ausführlicher philosophieren. Gedanken, die Dich herausfordern, Stellung zu beziehen. Absence machen Musik mit und für Geist und Seele. Darüber freut sich der Rezensent und auch, dass es da draußen in der weiten Welt noch Vieles Neues zu entdecken gibt.
Line-up Absence:
Thomas Calis (Schlagzeug)
Maarten Dekkers (Bass)
Piet van Tienen (Gitarre, Gesang)
Tracklist "Gravy From Orderville":
- Slaughter
- Put On Hold
- Leave This Place
- Conspiracy
- Broken
- Cold War
- Name Tags
- TLTBW
- Disagree
- Panic Bottom
- Insomnia
Spielzeit: 36:50, Erscheinungsjahr: 2016
3 Kommentare
Michael Breuer
17. August 2016 um 20:15 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hey Piet, hey Thomas,
thank you very much for your kind words. It´s great to hear that my ideas about your music are that close to your own intentions. That means much to me. It was a pleasure to follow your work and that intensive lyrics, which have touched me a lot and are also close to my own opinions and experiences.
Best wishes for the future and maybe we meet sometimes in a live concert of your band, Duisburg is not so far from Holland!
Michael
Piet van Tienen
16. August 2016 um 10:54 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Dear Michael,
I’m really honoured that you’ve listened to the album with an open mind and encountered Gravy from Orderville like a piece of art. That is a rare phenomenon in (pop)journalism nowadays. Your review is hitting the nail on the head in a lot of ways. And you are absolutely right about the album title. My compliments! By the way, it’s the first time that our music reminds somebody of Woody Allen which makes me very proud.
Best regards,
Piet van Tienen
Singer/Guitarist Absence
Thomas Calis
11. August 2016 um 15:33 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Michael, Danke danke danke und danke.