Das Isle of Wight Festival 1970 sollte die europäische Antwort auf Woodstock – das bis heute wohl bekannteste und populärste Rock-Festival der Historie werden und endete – bei weitem nicht nur, aber vor allen Dingen – für die Veranstalter in einem wahren Alptraum. Zum einen hatten sich auf dieser britischen Insel nicht nur erneut wesentlich mehr Menschen eingefunden als erwartet, zum anderen hatten einige (zumindest aber genügend, um diese ganze Veranstaltung letztlich komplett zu ruinieren) mit 'Love & Peace' eigentlich gar nichts mehr am Hut. Auf den Fahnen stand der Kampf gegen den Kapitalismus und richtete sich hier exklusiv gegen die Veranstalter. Der Eintritt sollte frei sein, das Essen und die Getränke ebenso und überhaupt sollte eigentlich alles frei sein. »Die Musiker…«, so die Meinung unter vielen damals, »…sind wie wir, das hört man doch in den Songs und Texten, die denken wie wir und die würden garantiert auch umsonst spielen!« So viel zur Naivität der revolutionären Abteilung des Publikums, denn selbstverständlich dachte die Musiker-Prominenz im Backstage-Bereich nicht im Traum daran, auf den schnöden Mammon zu verzichten. Nicht wenige Bands weigerten sich trotz aller offensichtlichen Probleme sogar die Bühne zu betreten, bevor sie abkassiert hatten. Was im Anschluss zu deutlichen Verzögerungen im Zeitplan führte, dadurch weiteren Unmut im Publikum nach sich zog und, und, und… die Atmosphäre war bereits ziemlich schnell vergiftet.
Und mittendrin bzw. Backstage saß die damals 26-jährige Joni Mitchell, die sich dieses Event nach der Panne in Woodstock (sie war im Verkehr stecken geblieben und setzte letztlich keinen Fuß auf das Festival-Gelände) auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Eigentlich sollte sie erst spät Nachts auf die Bühne, aber inmitten der Hysterie und des Chaos wurde sie von verzweifelten Veranstaltern dazu überredet, bereits am Nachmittag auf die Bühne zu gehen. Der Start verlief dann auch alles andere als gut. Nach einem missglückten Witz (bzw. keiner Reaktion des Publikums darauf) und dem ziemlich kurzen "That Song About The Midway" folgte das eigentlich großartige "Chelsea Morning", das Joni am Ende aber (gefühlt) irgendwie 'unfertig' abbricht und nach einer kurzen Entschuldigung deswegen von der Akustik-Gitarre zum Piano wechselt. Der negative Höhepunkt spielte sich ab, als ein Zuschauer, der es hinter die Bühne geschafft hat, ihr nach einem Song das Mikro wegnehmen will, um eine »…sehr wichtige Botschaft…« zu verkünden, worüber Miss Mitchell aber alles andere als begeistert war und dies auch deutlich machte. Die 'Security' war zwar recht schnell zur Stelle, konnte den Mann aber nur mit verstärktem Körpereinsatz von der Bühne bewegen. Und die gute Joni ist mittlerweile nervlich sowie emotional völlig am Ende, was man ihr in diesem Film auch deutlich ansieht. Schließlich fordert sie mit zitternder Stimme »…ein bisschen Respekt…« beim Publikum ein.
Überraschenderweise und zum Glück reagierte das Publikum allerdings durchaus auf diese Ansage und die Kanadierin konnte nicht nur ihren Auftritt in Ruhe zu Ende spielen, sie bekam anschließend nach jedem Song sogar mehr und mehr Zuspruch und Applaus. Über die einzelnen Tracks der begnadeten Songwriterin braucht man wohl nicht mehr viel zu schreiben, denn wer Stücke wie "Woodstock", "Big Yellow Taxi" oder "My Old Man" (um nur mal ein paar wenige an diesem Tag gespielte Titel zu erwähnen) noch nicht kennt, der hat definitiv etwas verpasst, was er schleunigst nachholen sollte. Aber so stark der Verfasser dieser Zeilen auch die kompositorischen Fähigkeiten der Songwriterin empfindet, so ist mein persönlicher Knackpunkt immer schon ihr Gesang gewesen. Zumindest dann, wenn sie sich in die ganz hohen Tonlagen steigert, stellen sich bei mir schon mal sämtliche Nackenhärchen in die Höhe. Allerdings nicht unbedingt aus Ergriffenheit…
Aber wie dem auch sei, da diesen Punkt ungefähr 77 Prozent der Menschheit auch anders empfinden könnten, kann man sich über das Erscheinen dieser DVD eigentlich nur freuen. Einerseits, da es sich hierbei um ein sehr interessantes Zeitdokument handelt, andererseits wurde hier wohl zum ersten Mal ein vollständiges Konzert der Grande Dame festgehalten. Im Menü ist wählbar, ob man sich einfach nur das Konzert reinzieht, oder sich das Ganze mit Interview-Einschüben neueren Datums, in denen Joni Mitchell sehr lebhaft über den damaligen Tag berichtet, wählt. Bonus-Material (inklusive weiterer Szenen des Bühnen-Piraten im Backstage-Bereich, der nach wie vor »…eine sehr wichtige Botschaft…« hat, die sich dann aber sehr bald schon statt der 'Eingabe von ganz Oben' eher als seltsam anmutende bewusstseinserweiterte Vision – schlechtes Acid? – herausstellt.
Für Joni Mitchell-Fans ist diese DVD ein absolutes Muss, für die Freunde dieser musikalischen Ära zumindest eine hochinteressante Angelegenheit.
Line-up Joni Mitchell:
Joni Mitchell (acoustic guitar, piano, vocals)
Tracklist "Both Sides Now…":
- That Song About The Midway
- Chelsea Morning
- For Free
- Woodstock
- My Old Man
- California
- Big Yellow Taxi
- Both Sides Now
- Gallery
- Hunter
- A Case Of You
Gesamtspielzeit: 56:00 (concert only), 76:00 (concert with interview), Erscheinungsjahr: 2018 (1970)
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