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Stephan Thelen / Fractal Guitar – CD-Review

Stephan Thelen / Fractal Guitar

Alle Wege führen nach Rom, viele Wege zum Ziel – der Weg zur Musik kann ebenfalls auf ausgesprochen unterschiedlichen Pfaden erfolgen. Selten habe ich dies tiefer erfahren als bei "Fractal Guitar" von Stephan Thelen. Ein kognitiver und ein emotionaler Ansatz, um sich Kompositionen zu nähern, die sich dem Mainstream mehr entziehen als alles, was ich in den vergangenen Monaten gehört habe. Musik, die aber dennoch klaren Prinzipien und Strukturen folgt, mathematisch präzise und mit virtuoser Perfektion. Stephan Thelen ist nicht nur ein ausgesprochen außergewöhnlicher Musiker, sondern auch Mathematiker. Und Amerikaner mit Schweizer Wurzeln. Wer jetzt denkt, wow, diese Voraussetzungen könnten manch spannende Ausschweifung begründen – der hat Recht!

Um den Kopf gesteuerten Teil der Musik im Schaffen von Stephan Thelen einigermaßen nachvollziehen zu können musste ich eine Menge büffeln. Begrifflichkeiten, technische Fakten und musiktheoretische Ansätze, mit denen ich mich, zugegebenermaßen, im bürgerlichen Leben eher selten auseinander gesetzt habe.

In den letzten Jahren hat Stephan seine Bemühungen weitgehend auf das Projekt Sonar konzentriert. Diese Schweizer Formation spielt ihr Konzept auf festen, mathematisch kühlen, Rhythmus bezogenen Vorgaben basierend und darin begründeten Sounds und Kompositionen. Eine auf Tritone eingestellte Gitarre setzt sich über die, unseren Ohren vertrauten diatonischen, Tonleitern hinweg und vorweg bestimmte rhythmische Muster geben einen streng formatierten Rahmen vor, in dem sich die Musiker unter den definierten Spielregeln improvisierend bewegen. Mit möglichst minimalem technischen Aufwand. Dort sind Effekte quasi verpönt.

Erst die Zusammenarbeit im Jahr 2018 mit dem experimentellen Fusionsgitarristen David Torn auf dem Studioalbum "Vortex" und einer entsprechenden Live-Aufnahme setzte diesem Ansatz einen deutlichen Kontrapunkt.
Eine Entwicklung, die für das hier vorliegende erste Solo-Album Stephan Thelens sicherlich sehr bedeutsam war. Denn auf "Fractal Guitar" wird dieser Trend kultiviert und den Effekten regelrecht gefrönt; das Wesen der Gitarre scheint ausgereizt zu werden in allen erdenklichen Soundeffekten und malerischen Klangcollagen, eine innige Liebesbeziehung und Lobpreisung an unser meist geliebtes Instrument.

Und David Torn ist wieder mit dabei. Einige weitere Saiten-Zauberer haben sich ihm angeschlossen und tragen bei zu einer Art Werkschau, was Gitarre heutzutage alles leisten kann. Markus Reuter, einer dieser Magiere an Stephans Seite und Co-Produzent der Platte ist übrigens kein geringerer als derjenige, der diese aufregende U8 Touch Guitar selbst entwickelt hat, die im Kontext der eingespielten Kompositionen immer wieder so stilprägend solistisch zum Ausdruck gebracht wird. Ach ja, ganz nebenbei scheint sich die Musik bei "Fractal Guitar" mehr und mehr zu abstrahieren und zu transformieren in die Seelenzustände des menschlichen Wesens. Sechs Saiten, die hier oft acht sind, die uns auf einen geheimnisvollen Weg in unsere tiefsten Empfindungen führen. Mystische Vibrations durch Verwendung modernster Technik bei Anwendung virtuoser Fertigkeiten – eine Gleichung aus menschlicher Kreativität und Konstruktivität. Geil!

Eine Begriffsdefinition, entnommen dem Platten-Inlet, möchte ich auf jeden Fall vorausschicken: "Fractal Guitar" ist eben nicht nur ein Song und der Name der Platte, sondern eben auch die Bezeichnung für eine ganz besondere Art des Gitarrenspiels – »eine Art rhythmische Verzögerung mit starker Rückkopplung, die Kaskaden von verzögerten Klangmustern in ungeraden Takten entstehen lassen«. Jedenfalls nennt Stephan dies so.

Aber es gibt auch willkommene Querverbindungen mit meiner eigenen musikalischen Sozialisation. Mit großer Freude habe ich David Torns Mitwirkung auf dem Album mehr oder weniger als erstes registriert – ein Musiker, dem ich in den frühen Neunzigern sehr gern und oft gefolgt bin auf den Pfaden einer avantgardistisch meditativen Fusion. Und Henry Kaiser hat mit dem sehr verehrten David Lindley mehrere Platten aufgenommen.

Will man die Musik eines absoluten Ausnahmemusikers wie Stephan Thelen auf diesem Album irgendwie breitentauglich tauglich erläutern, muss man wohl eine gewisse Verwandtschaft zu King Crimson herauf beschwören. "Road Movie" und "Radiant Day" erscheinen mir da besonders geeignet. Wen wundert das, wenn man liest, dass Stephan einst bei Robert Fripp studierte? Markus Reuter tat dies übrigens auch und seine Gitarre erscheint mir in "Road Movie" mehr als nur eine tiefe Respektsbezeugung. Eher schon eine kulturelle Liebeserklärung.

Irgendwie darf man "Fractal Guitar" vielleicht auch in einen historischen Bezug zu sehr krautigen Vorreitern experimenteller Rock-Klänge einordnen. "Inventions For An Electric Guitar" des legendären Manuel Göttsching (Ash Ra Tempel) wäre da ebenso zu nennen wie Achim Reichels (mehr Percussion orientiertes) A.R.&Machines–Projekt. Loops und Echos gab es da ja auch – und das zum ersten Mal in der Geschichte der Rockmusik.

Wenn wir uns auf eine Reise in den Abgrund der Hölle vorbereiten (der erste Song heißt "Briefing For A Descent Into Hell"), dann finden wir schnell Zugang zur Grundstruktur von Stephans Werken auf dieser Scheibe.
Das Grundmuster der edlen Klangmalerei bilden organisch vertraut klingende, aber auch pointiert präzise gespielte Hooks und Loops (eben die "Fractal Guitar") über einem polyrhythmischen Geflecht, bei dem mitunter mehrere verschiedene Takte gleichzeitig auf die Reise gehen, dass man sich erst nach einer Weile wieder am rhythmischen Ausgangspunkt trifft. Dieses Grundgerüst bildet die Basis der ausufernden Sound-Landschaften, besonders prägnant im Titelstück, wo mich die leuchtend klaren Sound-Strömungen irgendwie an das Land der tausend Wasserfälle in Kroatien erinnern – dort wo sie einst den "Schatz im Silbersee" verfilmten. Aber mitten drin im Geschehen – und zwar in allen fünf Nummern dieser Platte – da intervenieren sie, die Meister der Effekt behafteten Saiten und der U8 Touch Guitar. Mal sägt ein Solo in aggressiv dominanten Tönen dazwischen, mal schmiegen sich zarte Improvisationen dehnend und streckend und irgendwie wollüstig an die Grundmuster heran. Überhaupt, diese kontrastierende Spielweise zwischen den sprudelnd klaren Klangschleifen von Stephans "Fractal Guitar" und dem durch variierenden Fingerdruck am Gitarrenhals der U8 entstehenden, gedehnt psychedelischen Effekt erzeugt ein Spannungsfeld von ungeheurer Schönheit und wirkt auf mich irgendwie ausgesprochen sinnlich.

Hilfe, ich bin ein Gitarren-Fetischist!

Ich muss allerdings gestehen, dass ich irgendwann aufgehört habe, die vielen einzelnen Segmente an Klangspielereien und Sound-Schnipsel den jeweiligen Musikern zuzuordnen. Gleich im ersten Stück kommen ja nicht weniger als vier Gitarren-Männer zum Einsatz. Faszinierend jedoch, wie sich anerkannte Einzelkönner und Künstler derart Team orientiert einem Gesamt-Konzept unterordnen. Kein einziges Solo strebt nach Vordergrund, nach Aufmerksamkeit. Alles dient dem Bild als Ganzem, gibt ihm Farbe, Licht, Dynamik. Oder eben auch ein düster melancholisches Dahintreiben, so wie im faszinierenden Ausklang aus "Urban Nightscape".
Soll ich wirklich eine stilistische Einordnung dieser Musik zum Besten geben? Eigentlich verbietet sich dies zu so einem Album, aber wenn es denn sein muss, müssen wir ein Spannungsfeld zwischen Artrock, Ambient, progressivem Rock und experimenteller Fusion heraufbeschwören, für das es eigentlich gar keinen Namen gibt. Und das ist eine großartige Stärke dieser Musik, die in sich selbst lebt und sich selbst definiert.
Es gibt selten, aber zum Glück gelegentlich wirklich tiefe Momente, wo man plötzlich inne hält, wo man  Erwartungen und Erfahrungen ein Stück weit über Bord wirft und einfach dem folgt, was da gerade abgeht. "Fractal Guitar" ist so eine Erfahrung, ein undefinierter Moment, wo sich das Raum-Zeit-Kontinuum ein wenig mehr krümmt als sonst. Wo Gewohnheiten verloren gehen und vielleicht so etwas wie ein Augenblick einer großen, tiefen Wahrheit gegenwärtig wird. Sphärisch, hypnotisch, driftend. Musik als transzendentale Erfahrung auf mathematisch, physikalisch präzisen Grundlagen. Ein unvereinbarer Gegensatz? Mit dieser Platte ganz sicher nicht.

So wie hier könnte die Zukunft des progressiven Rocks einst aussehen und vielleicht wird man "Fractal Guitar" einst als einen Meilenstein sehen, der in ein neues Zeitalter modernen Gitarrenspiels überleitete. Mir hat die Platte jedenfalls das Tor in eine neue Dimension geöffnet – eine völlig neue Erfahrung. Und einfach gespenstisch gut.


Line-up Stephan Thelen:

Stephan Thelen (guitar, bass #5)
David Torn (guitar #1, 5)
Markus Reuter (guitar)
Henry Kaiser (guitar #2)
Jon Durant (guitar #1)
Bill Walker (guitar #2)
Barry Cleveland guitar #3, 4)
Matt Tate (bass #1 – 4)
Andi Pupato (percussion #3)
Benno Kaiser (drums #3, 5)
Manuel Pasquinelli (drums #1, 2, 4)

Tracklist "Fractal Guitar":

  1. Briefing For A Descent Into Hell
  2. Road Movie
  3. Fractal Guitar
  4. Radiant Day
  5. Urban Nightscape

Gesamtspielzeit: 67:41, Erscheinungsjahr: 2019

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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