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Epitaph / Long Ago Tomorrow – CD-Review

Epitaph / Long Time Tomorrow

Es war April 2010, als Epitaph im Steinbruch Duisburg spielten. Damals habe ich die Krautrock-Legenden zum ersten Mal live erleben können und nach dem Konzert, schon tief in der Nacht noch ein langes und hoch spannendes Gespräch mit Heinz Glass an der Theke führen dürfen.  Mann, der konnte Geschichten erzählen aus der Welt der Rockmusik – von Jimi Hendrix, einer Fast-Tour mit Mitch Ryder und von bluesigen Sessions in Berlin. Ach ja, und von Omega und 30.000 enthusiastischen Magyaren. War ein tolles Erlebnis damals, die Ungarn für Heinz, das Gespräch für mich.

Nun, wieder im April, schließen sich die Kreise. Das neue Album "Long Ago Tomorrow" liegt in meinem Player und die Band biegt ein in das Jahr ihres fünfzigjährigen Bestehens. Fünfzig Jahre an der Spitze der Krautrockszene mit vielen Aufs und auch ein paar Abs (wie der Pleite der amerikanischen Plattenfirma, die zur vorläufigen Auflösung der Band führte) – und genau diese Themen verarbeitet die Band in den neuen Songs.

Bereits der Opener postuliert die fröhliche Zähigkeit einer Kombo mit 50 Jahren Bandgeschichte, die sich einst nach der Inschrift von Grabmälern benannte und vielleicht wird ja genau das einst das Epitaph von Epitaph: "Standing Like A Rock". Ein geheimnisvoll schönes Keyboard, sofort einsetzende, fetteste Riffs und satte Hooklines. Ein cooler Groove, schöne mehrstimmige Gesänge, willkommen in der immer noch quicklebendigen Welt des Krautrocks, dessen Geburt eben auch an jenem legendären Abend des Jahres 1969 im Dortmunder Musikclub Fantasio mitgestaltet wurde.

"Going Fishing" folgt gleich darauf und überzeugt mit schönem Gitarrensolo und erstem Violineneinsatz. Ja, Epitaph haben sich, wie oft auch auf ihren Konzerten, wieder Verstärkung mitgebracht. Tim Reese bedient die zitierte Violine, Nektars Klaus Henatsch die Keyboards und Agnes Hapsari den Flügel. So gewinnt der Sound insgesamt an Tiefe und Spannung, in "Cross The Borderline" von Cliff Jackson sehr befruchtend durch den Einsatz der Mandola (eine Sopran gestimmte Mandoline) eingestreut. Der Song klingt dadurch leicht fernöstlich transzendent.

"Long Ago Tomorrow" ist ein kleines Wunder in seiner ganzen Struktur. Eingängig melodische, ansteigende Linien, kunstvoll mit sanft akustischen Schnipseln aneinandergereiht und ein sich entwickelndes Crescendo, in dem Bernd Kolbe von der Violine schön getragen untermalt auf den vier Saiten solieren darf, bevor in anwachsender Intensität die Rollen wechseln und kreisende Improvisationen kraftvoll zurück in den treibenden Refrain und seine eskalierenden Riffs münden. Das geht gut ab.

"Haunted House" startet düster, morbide, mysteriös, als ob die gespenstischen Klänge direkt aus dem Totenreich des Hades zu uns herausdringen. Schräge Violinenriffs, bedrohliche Hooks und ein leicht unterschwellig orientalischer Einschlag vermitteln mir neben wohligen Schauern auch ein bisschen Ritchie Blackmore’s Rainbow-Feeling. "Eyes Of The World" vom Album "Gone To Earth" hatte damals einen ähnlichen Ausdruck, doch die Welt in Epitaphs Spukhaus klingt um einiges dunkler. Gespenstisch gut.

Wenn der Paramabira Choir das Intro zu "Edge Of The Knife" anstimmt, könnte man glauben, Neal Morse hätte Neil Youngs "Heart Of Stone" neu arrangiert, eine schön reflektierende, leicht balladeske Nummer. Und dann ein bisschen Power? Bitteschön: Mit "Windy City" nimmt das Album Tempo auf zu einer Nummer, die schon im ersten Teil riffgetrieben marschiert und von Warren Haynes und ZZ Top befruchtet worden sein könnte, kulminierend in einem kurzen knackigen Gitarrensolo.

Nach dem gebremst, nachdenklichen "What A Life" erreicht "Long Ago Tomorrow" für mich seinen absoluten Höhepunkt im längsten Song der gesamten Produktion. Grundsätzlich muss man feststellen, dass es der Band gelingt, selbst in eher kürzeren Nummern sehr komplexe und teilweise wechselnde Stimmungsbilder aufzubauen. Man hat das Gefühl, die Songs wären länger als sie es tatsächlich sind. Gutes Songwriting nennt man das wohl. "Lost In America" ist bestes Erzählkino in der Sprache der Rockmusik. Ein lässig funky groovender Rhythmus mit einem minimalistisch  pointierenden Piano, der herrlich driftend von den für die Band so typischen Twin-Gitarren aufgenommen wird. Hier entwickeln sie die entspannte Coolness der frühen Wishbone Ash. Allein dieser langsam fließende Spannungsaufbau bis in die erste Strophe ist pure Magie, der Refrain treibt repetitiv, bis er kurz von wild breakenden Riffs zerhackt wird. Erinnerungen an die Tage in Chicago. Doch der soulige Grundgedanke wird fortgeführt und gipfelt in einem für die Siebziger so typischen Shuffle. Und dann bremst die wilde Fahrt plötzlich, ohne den unterschwellig treibenden Strom zu verlieren und mäandert im Hintergrund experimentierend dahin, bis wir wieder in den coolen Hooklines des Ausgangsthemas landen. Wow, dieses Kino ist ganz großes.

Eine sanfte, nostalgische Ballade namens "Sunday Cake" bremst den Adrenalinspiegel auf Normalmaß zurück, wohl dem, der Violinen und ähnliche akustische Seelenstreichler im Ensemble führt.
"Fallen Dreams" ist dann ein klassischer Rausschmeißer, bringt er doch noch einmal komprimiert die prägnanten Vorzüge der Band zur Wirkung, eben tolle Saitenarbeit mit schönen sanft akustischen Einlagen und mitreißenden Melodien. »Sailing home« singen sie zuletzt und im letzten Zwiegespräch der Gitarren segelt die Band in den Sonnenuntergang. Damit ist der Deckel drauf.

Jim McGillivray ist auf dem Album als Gastmusiker aufgeführt, die meisten Nummern wurden mit Carsten Steinkämper am Schlag eingespielt. Warum das Gründungsmitglied (wieder einmal) aus der Band ausgestiegen ist, wird im Begleitmaterial nicht erwähnt – geht uns eh nichts an.

Epitaph sind so etwas wie Urväter des Krautrock, na klar, damit habe ich diese Phrase platziert und möchte sogleich die Schublade wieder schließen, denn einerseits hatte die Band nie etwas mit der im Kraut weit verbreiteten, bedeutungsschwangeren Schwermütigkeit zu schaffen und sich andererseits längst auch jenseits der Grenzen etabliert. Schon damals in den frühen Siebzigern feierten sie in Old America fulminante Erfolge, als der Anglo-Amerikanische Musikmarkt eher verschnupft die Nase rümpfte, wenn sich irgendwelche' Krautfresser' aufmachten, in das kulturelle Imperium einzudringen, auf das man sich ein Alleinstellungsmerkmal zugedachte. Daher war der Begriff Krautrock zunächst eher ein Stigma, aber einige haben sich trotzdem durchgesetzt. Birth Control stehen da erfolgreich Pate.

"Long Ago Tomorrow" wirkt wie eine Kette schillernd bunter Songperlen, stilvoll arrangiert und mit prächtiger Strahlkraft, satte Rockmusik voller good vibes and vibrations. 50 Jahre und kein bisschen müde. Die Band tourt das ganze Jahr über durch Deutschland, häufig gemeinsam mit Peter Pankas Jane und Fargo, am 16.11. dann auch im Piano Dortmund, in der Stadt wo alles begann – damals, in einer Winternacht im Fantasio.


Line-up Epitaph:

Cliff Jackson (vocals, guitar, mandola)
Bernd Kolbe (vocals, bass)
Heinz Glass (guitar, backing vocals)
Carsten Steinkämper (drums, percussion)

guests:

Jim McGillivray (drums)
Tim Reese (violin)
Roger Wahlmann (keyboards, acoustic guitar)
Klaus Henatsch (piano, keyboards)
Paramabira Choir (backing vocals – # 5, 6)
Agnes Hapsari (piano – # 10)

Tracklist "Long Ago Tomorrow":

  1. Keep Standing Like A Rock
  2. Going Fishing
  3. Cross The Borderline
  4. Long Ago Tomorrow
  5. Haunted House
  6. Edge Of The Knife
  7. Windy City
  8. What A Life
  9. Lost In America
  10. Sunday Cake
  11. Fallen Dreams

Gesamtspielzeit: 58:38, Erscheinungsjahr: 2019

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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