![Bibi Ahmed / Adghah](https://www.rocktimes.info/wp-content/uploads/2019/09/bibi-ahmed-adghah.jpg)
Der Blues entstand bekanntlich in etwa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in den Staaten, geboren aus der Unterdrückung der afrikanischstämmigen Gesellschaft und als eine Manifestation einer eigenen, schwarzen US-amerikanischen Folklore. Songs über Verlust, Hoffnungslosigkeit, aber auch Protest gegen bestehende Verhältnisse und ein ignorantes Establishment flossen in die Melancholie dieser Musik schon immer mit ein. Und ohne diese Wurzeln gäbe es die Rockmusik nicht.
Jahrzehnte später scheint sich im Nordwesten Afrikas, an der Grenze zwischen Sahara und Sahelzone eine ähnliche Entwicklung vollzogen zu haben. Aus einer jahrhundertelangen Unterdrückung des eigentlich so stolzen Nomadenvolks der Tuareg, sowohl durch die Kolonialmacht Frankreich als auch die Nachfolgestaaten zwischen Burkina Faso und Algerien, erwuchs eine neue Musik, die alt überlieferte Muster ihrer Tradition mit der westlichen Kultur verband.
Der Tuareg Blues war geboren. Die gesellschaftspolitischen Aspekte sollen jedoch nach der Musik betrachtet werden.
Bibi Ahmed ist ein prominenter Vertreter der beschriebenen Szene, als Bandleader von Group Inerane ist er inzwischen auch auf europäischen Bühnen unterwegs und hat nun sein erstes Soloalbum eingespielt. Um sein Gitarrenspiel zu beschreiben, lohnt es sich ein wenig in die Vergangenheit zu schauen. In den Neunzigern war Ali Farka Touré aus Mali ein gefeierter afrikanischer Bluesgitarrist und das fantastische Album "Talking Timbuktu" mit Ry Cooder an seiner Seite wurde weltweit gefeiert; es gehört bis heute zu den herausragenden Produkten der Weltmusik überhaupt. Dort, aber auch bei vielen anderen afrikanischen Gitarrenspielern scheint ein repetitives Moment in der Musik von großer Bedeutung zu sein, ebenso wie ein sehr sauber akzentuiertes Spiel ohne Schnörkel. Doch während der aus der schwarzafrikanischen Ethnie stammende Ali Farka Touré aus seinen Akkorden eher in einer westlichen Blues-Phrasierung orientiert seine Soli spielte, entwickelt der gebürtige Tuareg Bibi Ahmed aus dem Niger seine Musik in eine andere Richtung. Auch er bedient sich durch das gesamte Album hindurch einfacher, immer wiederkehrender Akkorde. Und auch er spielt die Töne präzise pointiert, klar und transparent. Doch der Tuareg Blues von Bibi Ahmed hat eine hohe psychedelische Komponente und komprimiert sich hier und da zu recht rockigen Amplituden. Die Kombination aus den in Tamaschek, der heimischen Sprache der Tuareg, gesungenen Texte mit ihrer für mich als Laien deutlich orientalisch geprägten Artikulation und stimmlichen Modulation erwirkt von Beginn an einen eigenartigen Sog, der jeden gefangen nimmt, der sich auf für die westlichen Ohren außergewöhnliche Pfade einlassen mag.
Die oft feinen, psychedelischen Intros der Songs, allein auf der Gitarre gespielt, vermitteln mitunter den trügerischen Eindruck, dass wir plötzlich in einem Album klassischen Siebziger-Jahre-Rocks gelandet sind. Ich kenne eine ganze Reihe guter Underground-Bands, die ihre retrogeprägte Musik perfekt mit so einem Auftakt beginnen könnten und auch alte Hasen wie die Bröselmaschine hätten ganz sicher eine starke Affinität zu dieser Musik. "Tel Kal Tidit" und "Marhaba" sind schöne Beispiele dafür. Erst wenn der Gesang einsetzt wird deutlich, dass wir auf einer anderen Spur, der heißen Spur durch die Sahara unterwegs sind.
Die Musik besticht durch eine hohe Intensität, die Bibi Ahmed allein durch seine Stimme und seine einprägsame Gitarre zu erzeugen versteht. Geschickt spielt er mit den Stimmungen, mal sanftmütig, mal aufbegehrend und bestimmt. Der immer wieder prägnante Einsatz diverser Perkussionsinstrumente und ausdrücklichen Bassläufen sorgt dafür, dass wir nie in eine Art esoterische Meditation abdriften, es wird durch markante Rhythmuseinlagen kein Zweifel daran gelassen, dass die Musik von Bibi Ahmed ihre Wurzeln durchaus auch in der Rockmusik geschlagen hat, "La La La" hat so einen schönen Spannungsaufbau. Da wird der Pegel immer wieder mal erheblich aufgedreht. Zu schade, dass die dazu gehörigen Texte auf dem Tonträger und nach Recherchen im Netz wohl auch dort bislang nicht verfügbar sind. Ein Musiker, der mit so viel Verve und Leidenschaft zwischen den Kulturen agiert und sich als Botschafter seines Volkes versteht, der hautnah so viele Dinge erlebt hat, von denen wir nicht ansatzweise wissen, der kann eine Menge erzählen. Eben nicht nur in seiner auch ohne Worte verständlichen Musik.
Mein persönlicher Höhepunkt wird in dem baladenhaft startenden "Tamiditin Janette" erreicht. Die zarten, aber klaren Riffs könnten glatt von Jerry Garcia eingestreut sein, ich bin sicher, die Grateful Dead wären bei der Nummer jederzeit gerne dabei gewesen. Hier haben wir dann doch eine melancholische Meditation und das verstärkt die Vermutung für den im Tamaschek sprachlich gänzlich unbedarften Rezensenten, dass wir es mit einem Liebeslied zu tun haben. Diese Musik ist traumhaft schön.
Am Ende, in "Lucia Taura", entwickelt sich ein ungeheurer hypnotischer Strom und zieht uns hinein in eine Fatamorgana, wenn die Gitarre im Vordergrund durch eine weit zurückgezogene zweite Gitarrenlinie geradezu widergespiegelt wird. Die Luft flirrt und es verliert sich die Grenze zwischen Sein und Schein, der Wind über der Wüste nimmt die Sinne gefangen und verteilt sie in endlose Partikel verteilt hinaus ins Unbekannte. Eine kulturelle Fusion, voll sanfter Empathie, aufgelöst in einer Wolke betörender Klänge.
Das angestammte Land der Tuareg liegt im Zentrum zwischen den Staaten Burkina Faso, Niger, Mali, Algerien und Libyen. Die Loslösung von kolonialen Besatzern brachte Freiheit für die in den Staaten starken Ethnien, die Tuareg wurden und werden weiter unterdrückt und diskriminiert. Seit den Sechziger Jahren gab es mehrere Aufstände, zuletzt mit immer ausgeprägterer Bewaffnung. Viele Tuareg haben in libyschen Flüchtlingscamps eine Ausbildung zum Soldaten erfahren, andere erlebten die dunkelsten Seiten dieser Lager. Auch Bibi Ahmed war dort, doch er hat einen anderen Weg gewählt als den der Gewalt. Er, der schon als Kind seine große Liebe zur Musik entdeckte. Er kämpft für die Freiheit seines Volkes mit seiner Stimme und seiner Gitarre. Die Songs seiner Hauptband Group Inerane transportierte für viele Freiheitskämpfer den Spirit ihrer Bewegung.
Tuareg Blues, ein satter Anteil an psychedelischem Sahara-Rock und ein folkloristisches Fundament verbinden sich mit gesellschaftlich bedeutenden Botschaften in den Texten (hier beziehe ich mich auf die Erläuterungen im Begleitblatt) und bieten eine heiße und spirituelle Reise in eine sehr gefährliche Welt, wenn man sie denn in der Wirklichkeit aufsuchen würde. Folgt man jedoch ausschließlich der Musik, so erscheint die mystische Wüste über unserem Horizont und lockt mit ihren geheimnisvollen Reizen auf eine transzendentale Fahrt zu neuen Erfahrungen – eine Fatamorgana der Klänge.
Die westlichen Psychedeliker haben sich traditionell schon sehr früh in der fernöstlich asiatischen Musik eingeklinkt. Es ist schön zu erleben, dass aus dem Herzen Afrikas eine völlig andere Region an unsere Musik andockt und damit neue Welten erschließt.
Diese psychedelische Sahara-Reise ist ein Erlebnis für jeden, der bereit ist, sich von für uns nicht alltäglichen Klängen verzaubern zu lassen.
Line-up Bibi Ahmed:
Bibi Ahmed (guitar, vocals, bass, percussion)
Tracklist "Adghah":
- Sef-Afrika
- Tel Kal Tidit
- Tamidtin Aicha
- La Luma
- Marhaba
- La La La
- I Fitalan
- Tamidtin Janette
- Lucia Taura
Gesamtspielzeit:48:18, Erscheinungsjahr: 2019
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