Ein Album von Ray Wilson besprechen zu dürfen erscheint mir inzwischen, als würde ich von einem alten Freund berichten. Er war es, der mich nach dem Tod meines Vaters als erster mit seiner fantastischen Performance, damals auf dem Opernplatz in Duisburg, ein Stück weit in die reale Welt zurückholte, mit meiner Mutter an meiner Seite. Seitdem ist kein Jahr vergangen, in dem ich Ray nicht live erlebt habe. "Upon My Life" handelt von seinem Leben – und somit ein bisschen auch von meinem.
Kaum ein Song dieses wunderschönen Albums, welchen er uns nicht in den vergangenen Jahren auch live in Duisburg geschenkt hat. Duisburg, meine Heimatstadt, die Ray Wilson ins Herz geschlossen hat und ihn Jahr für Jahr beim Stadtfest feiert. Und weil ich mich über die Jahre natürlich mit allen Platten aus dem Hause Wilson (Bruder Steve ist ja auch mit dabei) eingedeckt habe, bin ich im Grunde nicht einmal Adressat von "Upon My Life", denn diese Kollektion beinhaltet nur zwei neue Songs, jeweils an den Beginn der beiden CD’s gesetzt. So ist das Album perfekt geeignet für alle diejenigen, die mit Ray Wilson eher seine Mitwirkung bei Stiltskin und Genesis verbinden – hier kann man sich vertraut machen mit den Werken, die Ray jenseits der berühmten Formationen produziert hat und die ihn als einen erstklassigen Songwriter ausweisen.
Viele der Stücke erinnern mich an die Geschichten, die Ray uns von der Bühne aus erzählt hat. Geschichten zu den Liedern und wie sie zustande kamen, allen voran die bewegenden Hintergründe zum "Song For A Friend", der dem 2015 verstorbenen Freund James Lewis gewidmet ist.
Ja, die Songs von Ray Wilson sind oft geprägt von Nachdenklichkeit, von tiefen Gefühlen, melancholisch, manchmal richtig traurig. Aber stets auch immer mit einem Funken Hoffnung, dem Glauben an die Liebe und der Botschaft, dass aus jedem Tal ein Pfad nach oben führt.
Tendenziell befinden sich auf CD 1 die ein wenig temporeicheren und instrumental kompakteren Nummern, hier und da auch mit einem leichten Anteil poppiger Attituden. So wundert es nicht, dass wir gerade hier einige Standards aus den Live-Programmen finden, sogleich beginnend mit "Lemon Yellow Sky". In "Ought To Be Resting" streifen wir im Mittelteil sogar ein wenig floydschem Gitarren-Flair des Genesis-Mannes, was aber sehr viel weniger ihm selbst, als seinem kongenialen Partner an der Gitarre zu verdanken ist, Mr. Ali Ferguson. Überhaupt stellt der wohl das konstanteste Bindeglied zu Rock und Blues im Ensemble dar, wobei in den verschiedenen Soli immer wieder auch Marcin Kajper für mitreißend empathische Einlagen gut ist. Seine Saxophon-Künste haben mich auch live immer wieder mitgerissen, der Junge hat es echt drauf.
Stark auf der Bühne war und ist "Wait For Better Days", so auch ein Höhepunkt in der hier vorliegenden Studio-Version. Ein Wort zu den beiden neuen Tracks: Diese sagen da mehr als alle Erklärungsversuche: "Come The End Of the World" und "I Wait And I Pray" lassen ahnen, wie sehr sich Ray Wilson um unser Zusammenleben und die immer mehr verzwickte Welt sorgt. Den Brexit vor Augen, die Polarisierung der Gesellschaft im Hinterkopf, das alles lässt einen sensiblen Künstler noch nachdenklicher werden als eh schon. Auch da trifft er bei mir ins Herz – wie so oft schon.
Im Vergleich zu den Live-Aufnahmen entfalten die Songs ihre stille Emotionalität in diesen Studioversionen insofern ausdrücklicher, dass eine akustische Gitarre in der Ruhe der eigenen Oase nun mal dezenter klingt als in einem großen Plenum. Das verleiht diesen mitunter einen deutlich anderen Duktus, wie beispielsweise in "Alone". Es ist müßig festzustellen, dass Rays leidenschaftliche, sanfte Stimme gerade in diesen leisen Passagen ganz besonders intensiv rüberkommt; er, der einst der Musik von Genesis die Seele zurückgegeben hat.
"The Actor" berührt mich besonders, in diesem Ensemble wirkt er ganz besonders intensiv. Das nachfolgende "Goodbye Baby Blue" gehört auch auf der Bühne zum Programm, ein Titel, zu dem Ray stets sehr einfühlsam über die Hintergründe berichtet. Dass hier auf dem Silberling "First Day Of Change" anschließt, passt thematisch perfekt dazu, denn auch hier geht es um das Ende einer Beziehung – ein Ende, das immer auch ein Anfang ist.
Die meisten, nämlich fünf Songs, stammen vom Album Chasing Rainbows, doch kurz vor dem Ende erwartet uns mit "Make Me Think Of Home" jenes epische Titelstück des letzten Albums. Nie werde ich vergessen, wie ich erstmals mit dieser wundervollen Komposition in Berührung kam. Es war Freitagmittag, ich kam gerade von der Arbeit, als ich unvermittelt in den Soundcheck für das Open Air am Abend auf der Königstraße in Duisburg geriet. Die Band spielte einige Nummern komplett durch, vor vielleicht 20 Neugierigen, und so hörte ich erstmals diesen Song, der zu dem Zeitpunkt auf Platte noch gar nicht erschienen war. Gänsehaut ist nur ein geringes Wort für das, was ich damals dabei empfunden haben.
Ray Wilson nutzt bekanntlich häufig auch klassische Instrumente in seinen Kompositionen. Mal ein Cello, mal eine Geige oder Flöte – eine Tradition, die zu Zeiten von Peter Gabriel eben auch bei Genesis gepflegt wurde. Es gibt den Songs einen zusätzlichen warmen, organischen Ausdruck und schmiegt sich perfekt an Rays charismatische Stimme. Beschwingte Rhythmen wie in "Change" treffen wir eher selten an, insgesamt trifft die Musik den nachdenklich besorgten Gesichtsausdruck, mit dem uns Ray auf dem Album empfängt und der so typisch ist für sein Cover-Artwork.
An Diskussionen über die Auswahl der Lieder werde ich mich ganz sicher nicht beteiligen. Wenn ein Künstler ein Album aus seinem Leben zusammenstellt, dann sollte man ihm den Respekt erweisen, die Auswahl als die beste aller möglichen anzuerkennen. Denn es ist sein Leben, welches er vor uns ausbreitet.
Ich habe in meinem Leben eine Menge legendärer Live-Acts verpasst, im Prinzip bin ich ein paar Jahre zu spät geboren. Aber im Laufe der Jahrzehnte habe ich Musiker kennengelernt, die mich mehr als andere beeindruckt haben und denen ich immer treu geblieben bin. Ray Wilson gehört eindeutig dazu. Es ist seine Musik, seine einzigartige Stimme, aber eben auch sein Auftreten, mit dem er die Menschen gefangen nimmt. Seine Bescheidenheit, seine Freundlichkeit und seine authentische Leidenschaft, mit der er seine Musik vorträgt. Mit "Upon My Life" lädt Ray uns ein, mit ihm einen Blick auf den Teil seines Lebens zu werfen, der nicht verbunden ist mit den berühmten Bands, denen er einst als Frontmann diente. Hier erleben wir Ray Wilson sozusagen ganz privat, sind wir verbunden mit seinen Gedanken und Gefühlen. Und weil sich unsere Wege schon so oft gekreuzt haben, ist es mir leider nicht möglich gewesen, die Geschichte dieser Platte zu erzählen, ohne die vielen fantastischen Eindrücke aus den Konzerten einzubringen – so ein Best-of ist ja ein Stück weit immer auch vergleichbar mit der Set-Liste einer Live-Performance. So gesehen passt das. "Upon My Life" berührt – umso mehr, wenn man selbst viele Erinnerungen mit dieser Musik in Einklang bringen kann.
Es ist viel Zeit vergangen seit jenen gefeierten Live-Auftritten beim Edinburgh-Festival 2001 – und noch mehr seit "Inside" und "Calling All Stations". Ray Wilson hat sie genutzt und uns viele großartige eigene Songs geschenkt. Jetzt endlich gibt es eine kompetente Auswahl auf zwei Tonträgern für alle die, die den sympathischen Schotten neu für sich entdecken wollen. Sie werden einen zutiefst ehrlichen, offenen und mitfühlenden Menschen kennenlernen, der stets sich selbst, sein Umfeld und seine Welt reflektiert. Es sind Menschen wie er, denen wir folgen sollten…
Line-Up Ray Wilson:
Bei 28 Songs aus verschiedenen Epochen und mit wechselnden, teilweise vielköpfigen Besetzungen erspare ich uns eine detaillierte Auflistung aller beteiligter Musiker, die Liste wäre länger als die Review selbst.
Tracklist "Upon My Life"t:
CD 1:
- Come The End Of The World
- Lemon Yellow Sun
- Take It Slow
- Ought To Be Resting
- Constantly Reminded
- American Beauty
- Wait For Better days
- Bless Me
- Show Me The Way
- Rhianne
- Easier That Way
- She
- Gypsy
- Ghost
CD 2:
- I Wait And I Pry
- Another Day
- Song For A Friend
- Alone
- Not Long Till Springtime
- She’s A Queen
- Change
- Ever The Reason
- Along The Way
- The Actor
- Goodbye Baby Blue
- First Day Of Change
- Makes Me Think Of Home
- On The Other Side
Gesamtspielzeit: 64:47 (CD 1) , 61:48 (CD 2) , Erscheinungsjahr: 2019
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