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Various Artists / KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 1 – CD-Review

Various Artists / KRAUT! - Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 - 1979 - Teil 1 – CD-Review

Wow! Ein großes Wow!

Wer die Veröffentlichungen der Bear Family kennt, weiß, dass die Philosophie des Labels eine ganz besondere ist: kein Album ohne adäquate Begleitdokumentation. Akribisch wird der Käufer im Booklet informiert und erfährt viel Neues und bis dato Unbekanntes.

So auch im Fall der neuen Reihe über das 'Phänomen' Krautrock. Lassen wir die fast 140 Minuten vorzüglicher Musik erst mal außer Betracht und gehen wir auf die 'Verpackung' ein. Dick ist es, das Fold-Out-Produkt. Ein 100-seitiges Booklet liegt bei, in dem für jede Band, die auf den beiden Silberlingen vertreten ist, biografische Informationen zusammengestellt sind. Und dies in bemerkenswerter Ausführlichkeit. Vorliegendes Doppelalbum ist der erste Teil einer vierteiligen Reihe, die im Dreimonats-Rhythmus erscheinen wird. Unterteilt ist sie geografisch, wobei der Norden den Anfang macht. Die kommenden Doppeldecker widmen sich der Mitte, dem Süden sowie Berlin.

Die geschriebenen Informationen stammen von Burghard Rausch, seines Zeichens DJ, Rundfunkmoderator, Vinyl-Sammler und Drummer bei Agitation Free sowie Bel Ami. Daneben war er Co-Autor verschiedener Bücher, so z. B. des "Rockmusiklexikons" (mit Christian Graf). Der 1947 Geborene ist also vom Fach und hat die Entstehung des Krautrocks am eigenen Leib mitbekommen.

Dass der Begriff Krautrock bis zurück in den zweiten Weltkrieg reicht, dürfte bekannt sein. Für die englischen Soldaten waren die Deutschen die Krauts, weil sie einem Klischee gemäß permanent Kraut aßen. Aber auch andere Nationalitäten, so Burghard Rausch, bekamen ihr Fett weg. Die Franzosen waren die Frogs, Belgier die Sprouts und die Niederländer die Clogs.

Da ist es fast verwunderlich, dass es neben Krautrock nicht auch Frogrock, Sproutrock und Clogrock gibt. Ins Leben gerufen wurde der Begriff Krautrock allerdings vom legendären DJ John Peel, nach dem Spielen des Amon Düül-Stückes "Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf" von ihrem Debüt aus dem Jahre 1969, "Psychedelic Underground". Dass sich der erste Titel mit dem Namen "Krautrock" auf dem 1973er Album "Faust IV" der Hamburger Band Faust befand, erfahren wir auch aus dem Booklet. Deren Label, Virgin Records, übernahm dann diese Bezeichnung für »psychedelisch angehauchten, deutschen Art Rock.«.

Wenn John Peel deutsche Rockmusik 1969 auch auf den Namen Kraut taufte, so war die so genannte Musik allerdings schon vorher da. Es war die Zeit der Studentenrevolte, die Zeit, als überall Psychedelic-, Hard- und Prog Rock als neue Stile entstanden. Bis heute, so meine Erfahrung, gibt es zwei Lager, was den Begriff Krautrock angeht. Da sind zum einen diejenigen, die ihn stilistisch einordnen und die anderen, die ihn auf deutsche Bands bzw. Musiker beschränken. Ich will da niemandem reinreden und habe meine eigene Religion. So ist Nektar für mich eine deutsche Krautrockband. Ougenweide dagegen sehe ich eher im Folk und Mittelalter. Dann habe ich viele Bands aus fernen Landen besprochen, deren Musik ich ebenfalls diesen besonderen Krautgeschmack attestiert habe. Es ist schwer, sich, bzw. mich da festzulegen; manchmal reicht eben schon der deutsche Akzent beim Singen englischer Texte, ein andermal sind es Erinnerungen an alte Tunes aus den Sechzigern und Siebzigern, die mich veranlassen, den Kraut-Stempel zu benutzen.

Spätestens wenn man sich die Tracklist des vorliegenden Samplers anschaut, wird klar, wie vielfältig die Bandbreite der Musik ist, die man unter dem Begriff Krautrock sehen kann. Es sollte und darf da kein Dogma geben. Bereits das erste Stück, "Ride The Sky", vom Debüt der darauf hart rockenden Lucifer’s Friend, ist weit davon entfernt, dass ihn Stil-Verfechter, die unbedingt das berühmt-krautige und süße Prog-Psychedelische, von deutschen Musikern gespielte Liedgut in den Kraut-Korb legen. Zu hart ist der Rock, lehnt sich stark an Zep und Heep an und außerdem ist der Sänger Engländer. Zu dieser Zeit war Lucifer’s Friend vom jungen Heavy Metal gar nicht so weit weg.

Selbstverständlich darf die für die deutsche Rockmusik so wichtige Inga Rumpf auf einer Dokumentation über Krautrock nicht fehlen. Und logisch, dass sie mit Atlantis und Frumpy vertreten ist. Ich persönlich komme etwas ins Wanken, ob der schieren stilistischen Vielfalt: 'Meine' Kraut-Schlachtrösser Nektar, Jane, Ramses und Novalis neben einer Band wie Ougenweide, neben Folk und Blues Rock von z. B. Crawinkel, neben relativ (zumindest mir) unbekannten Truppen wie Gash, Galaxy oder Percewood’s Onagram (Jesses, sind besonders die Letzgenannten geil) … Es gibt enorm viel zu entdecken und auch das eigene Verhältnis zum Krautrock zu überdenken.

Bleibt man bei der stilistischen Einordnung, oder ist die egal und es kommt darauf an, ob die Band aus Krautland stammt und dann auch noch alle Musiker Deutsche sind? Immerhin gibt es auch im Garten eine Unzahl an Kohl und Kraut, die zwar verschieden schmecken, aber allesamt einer Familie angehören. Wie auch immer, ein jeder wird auf der Kraut-Reihe der Bear Family mit Sicherheit auch Neues aus vergangenen Zeiten entdecken und sich an der musikalischen Vielfalt erfreuen.

Ich kann die Reihe nur empfehlen. Alleine das höchst informative Booklet ist sein Geld wert.


Tracklist "KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 1":

CD 1:

  1. Lucifer’s Friend: Ride The Sky
  2. Atlantis: Rock’n Roll Preacher
  3. Michael Rother: Flammende Herzen
  4. Tomorrow’s Gift: Ants
  5. Ikarus: Mesentery
  6. Cravinkel: Keep On Running
  7. Novalis: Wer Schmetterlinge lachen hört
  8. Ougenweide: Ouwe
  9. Ramses: La Leyla
  10. Jane: Redskin
  11. Frumpy: How The Gipsy Was Born

CD 2:

  1. A.R. & Machines: Schönes Babylon (Beautiful Babylon)
  2. Nektar: Desolation Valley
  3. Eloy: The Light From Deep Darkness
  4. Galaxy: Supermarket
  5. Gash: A Young Man’s Gash (Part 2)
  6. Thirsty Moon: Big City
  7. Percewood’s Onagram: Braindrops Won’t Kill The Fire
  8. Missus Beastly: Uncle Sam
  9. Abacus: Capuccino
  10. Parzival: Souls Married To The Wind

Gesamtspielzeit: CD 1: 68:06, CD 2: 68:49, Erscheinungsjahr: 2020 (1968-1979)

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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