Man stelle sich vor, es gibt eine Schallplatte, die zu den größten Errungenschaften ihrer Kultur gehört. Und dann kommen furchtbare Menschen und sagen, das Werk muss CD-Kompatibel auf unter 74 Minuten eingekürzt werden. Und diese Menschen sind sogar so grausam, dass sie ausgerechnet an den besten Stellen ihre perversen Schnitte vornehmen. Klingt gruselig, oder? So aber geschehen bei der ersten CD-Version von "Live Rust", aus meiner Sicht der besten Live-Scheibe von Neil Young in seiner gesamten Karriere. "Cortez The Killer" kämpft auf diesem Album mit "Like A Hurricane" um den Preis des besten Live-Songs ever und dann kommt so ein blöder Dödel und kürzt ausgerechnet beim erstgenannten Song zwei Passagen. Ich kannte die Aufnahme in aller Intensität und mit jeder Note von der LP – doch als ich erstmals den Silberling konsumierte, wäre mir glatt der Herzschrittmacher stehen geblieben, wenn ich denn einen gehabt hätte.
Wie um alles in der Welt kann man so ein Verbrechen an der Kultur begehen und mitten aus dem intensivsten Stückchen Gitarrenmusik, was die Welt vielleicht gesehen/gehört hat, einfach mal einen Teil herausschneiden? Wie kann man einen wahrhaft hypnotischen Spannungsbogen durch künstliche Schnitte zu stoppen versuchen?
Es war, als ob man ein Stück aus mir selbst heraus geschnitten hätte. Denn ich liebe diese Version von "Cortez The Killer" so sehr – vom ersten Tag an, als ich sie erstmals hörte und ich lebe jeden einzelnen Ton mit. Diese epische Gitarre ist wie eine Ganzkörpermassage.
Für mich das schlimmste Attentat gegen unsere Musik, seit Schallplatten produziert werden. Leute, macht so etwas nie wieder!
Aber es gibt am Ende des Tages Gerechtigkeit, manchmal wenigstens. 2014 erschien eine remasterte Version von "Live Rust", wenn auch nur als Download – und endlich bekommen wir "Cortez The Killer" wieder so geboten, wie Crazy Horse es damals auf der Bühne gespielt haben.
Es ist allerdings schwierig, an den kompletten Download heran zu kommen, da die Produktionsfirma Pono zwei Jahre später den Geist aufgab. Die Amis verkaufen uns scheinbar keine Downloads mehr, aber ein großer internationaler Anbieter hat die einzelnen Songs im Angebot. Ist zwar blöd beim Einkauf, sechzehn Dateien einzeln zu bestellen, aber der Gesamtpreis ist immer noch günstiger als das vollständige Album auf dem englischen und amerikanischen Markt.
Es war wohl eines der großartigsten Konzerte in der Geschichte unserer Kultur. Man muss das Entstehungsdatum der Aufnahme betrachten, um die teilweise für die heutige Generation schwer nachvollziehbaren Aktivitäten auf der Bühne einzuordnen. Es war die Zeit nach "Star Wars" (dem Original und nicht der verwursteten Folgeprodukte) und die ganze Welt war verrückt nach diesem Film. Auch Neil Young, der eh immer eine Persönlichkeit zwischen Rebellentum und Anpassung darstellte, nahm sich des Themas an und ließ reihenweise Javas die Bühnenarbeit verrichten. Live und während des Konzerts. Javas, die kleinen Kuttenträger mit den piepsigen Stimmen, die im Film auf dem Planeten Tatooine die Wüste bevölkern und ausgediente Roboter sammeln.
Die Gestaltung des Events ist denkbar einfach. Zu Beginn spielt Neil weitgehend die akustischen Nummern. Erst später gesellen sich seine Freunde von Crazy Horse dazu und genau diese Mischung macht aus dem Album schon einmal etwas Besonderes, erleben wir im Prinzip doch zwei gänzlich unterschiedliche Konzerte unter einem Hut. Die elektrischen Nummern sind aber bei weitem überwiegend, so wie es sich für ein Rock-Konzert nun mal gehört. Aber so machten es Crazy Horse eigentlich immer.
Klar hat jeder seine eigenen Präferenzen, aber was die leisen, akustischen Nummern angeht, ist "After The Goldrush" für mich ein absoluter Höhepunkt, auch wenn hier ausnahmsweise die Tasten bewegt werden. Die Mystik des Songs ist ungebrochen.
Weitgehend aber gibt Crazy Horse, das verrückte Pferd, jede Menge Gas, Versionen von "Powderfinger" oder "Sedan Delivery" wären anderswo herausragende Knaller, hier bereiten sie nur die Stimmung für die wahren und ewigen Highlights.
Gut, "Cortez The Killer" hab ich schon ein gutes Stück weit gewürdigt. Die Art und Weise, wie uns Neil hier mit seiner Gitarre umzingelt, lähmt, los lässt und um sich her wirbelt, ist einfach nicht vergleichbar, ein Spiel zwischen zwei magnetischen Polen, die uns sanft und entschleunigt auf Spannung halten, nur um uns im nächsten Moment mit Urgewalt aus der Umlaufbahn zu schleudern. Es gibt nichts, was dem nahe kommt. Der mystisch naive Hintergrund des Songs verschmilzt geradezu mit der unglaublichen Musik.
Obgleich ich an dieser Stelle einen kleinen Stimmungsdämpfer einbauen muss, der überhaupt nichts mit der Musik zu tun hat. Aber die hierzulande fast esoterisch geschönten Umgangsformen mit der Kultur der Inkas sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass unabhängig von den Verbrechen der imperialistischen spanischen Conquistadores die Inkas selbst ein höchst brutales, faschistoides Volk waren, die weite Teile der Andenregion mit übelster Gewalt annektiert haben. Ich war in meinem Leben mehrmals in Ecuador, habe Freunde dort und viel erfahren über ein Volk, das die Männer tötete und Frauen und Kinder versklavte, um das Reich von Cuzco und Machu Picchu in alle Richtungen zu erweitern. Darüber ist in Europa seltsamerweise nicht viel bekannt, in Südamerika weiß es jedes Kind.
Und wenn am Ende der größte Song des Meisters über den Äther geht, dann wird er dabei Sphären berühren wie nur wenige Nummern in der Geschichte der Musik zuvor. Schon das dramatische Intro zu Neil Youngs unfassbarem "Like A Hurricane" sucht seinesgleichen. Wir lassen uns hin- und her reißen im Wind der Wüste, die harmonisierende Orgel erdet uns für einen Augenblick. Die Melodik dieses Songs zu beschreiben würde mich glatt der Lächerlichkeit preis geben, doch die Solo-Gitarre mag ich dann doch zumindest erwähnen, obgleich Worte dem, was Neil Young dann spielt, wohl kaum einen würdigen Rahmen geben können. Es ist schlichtweg das tiefste und berührendste Solo der Musikgeschichte. Zumindest in meiner Wahrnehmung.
Erdige Bodenhaftung im Zusammenspiel mit unbeschreiblicher Melodik, wie auch immer. Hier erwächst ein zeitloses Stück Gitarrenmusik wie eine Liebeserklärung an das Leben allgemein – "Like A Hurricane" ist ja auch ein Liebeslied. Es scheint so, als ob sich die Musik aus sich selbst löst und in unendliche Höhen emporsteigt, betört und trunken von sich selbst. Erhabene Emotionen steigen auf und scheinen kein halten zu finden. Aber nicht wie einst beim Ikarus, der die Grenzen seines Tuns nicht realisierte, diese verrückt schönen Licks sind mit der Erde zutiefst verwurzelt und es wirkt fast so, als ob Mother Earth persönlich daran interessiert wäre, diese gitarristischen Exzesse nicht zu weit in die Sphären driften zu lassen. Wir bleiben immer an einem unsichtbaren Band mit der Pacha Mama verbunden und werden verwirbelt, ohne verloren zu gehen. Wie der Drachen eines unschuldigen Kindes. Ich habe niemals in meinem Leben eine geilere Gitarre gehört als in diesen Minuten in "Like A Hurricane".
Dass das Finale des Songs daran noch einmal anschließt, liegt nahe, aber wer bis hierhin verstanden hat, der braucht keine Gebrauchsanweisung mehr, sondern fliegt noch einmal ab auf einem Teppich, den uns die Musik so wohl nie wieder bieten wird. Ich weiß nicht, was damals geschehen ist, es scheint so, als ob überirdische Wesen den guten Neil am Ende einfach in ihre Obhut genommen und zu ihren Feldern geführt hätten. Vom Planeten Erde kann dieses Solo eigentlich nicht stammen.
"Like A Hurricane" in dieser Version ist für mich der Kulminationspunkt der Rockmusik. The best song ever.
Oje, wie angreifbar eine solche Aussage doch ist…
Darum wird am Ende ewig die Frage bestehen bleiben, welcher Song nun besser geeignet ist, in die Ruhmeshalle Walhallas einzuziehen, eben "Cortez The Killer" oder "Like A Hurricane". Für letzteren spricht die Tatsache, dass Neil diesen unfassbar epischen Song niemals kompakter auf den Punkt gebracht hat als hier. Oft verzettelte er sich in seinem Geschrammel und nahm dadurch dem Spannungsbogen seinen natürlichen Verlauf. Hier trifft er die Harmonien und Licks wie nichts jemals zuvor und danach in seiner Karriere, ein absoluter Favorit auf den Titel. Aber eben auch die vollständige Version von "Cortez The Killer" mit ihrer wieder hergestellten Intensität und Spannung ist ein Meisterwerk vor dem Herrn, wo man nur noch ehrfurchtsvoll erblassen kann. Zwei solche Volltreffer auf einem Album zu landen ist ziemlich einzigartig und zeigt, was möglich ist, wenn man einfach nur den Emotionen folgt. Denn nichts anderes beschreibt die Entstehungsgeschichte beider Versionen, die sind aus dem Bauch heraus improvisiert und stehen für alle Zeiten für Emotionen, wie sie nur ein ganz besonders großer Künstler zeigen kann.
Auf "Live Rust" zeigt Neil Young alle Aspekte seines Spektrums. Die akustischen Nummern sind einfühlsam und prägnant, mehr aber noch brilliert er in den elektrischen Songs, die wie nirgendwo anders so präzise und komprimiert auf den Punkt kommen. Dabei erschafft der Meister die schönsten Soli, die er je gespielt hat und einige, wie sie die Welt nie zuvor zu hören bekam.
Er, der so viele andere beeinflusst hat. Natürlich wird das Album von den beiden ausführlich zitierten Übersongs dominiert, doch der Flow insgesamt ist mitreißend und für alle Zeiten ein Markstein, wie man Live-Musik zelebrieren kann.
Wenn man es kann und das nötige Material dafür geschaffen hat.
"Live Rust" ist das ziemlich beste Album der Welt.
Line-up Neil Young:
Neil Young (guitar, vocals, keyboards, harmonica)
Frank Sampedro (guitar, keyboards)
Billy Talbot (bass)
Ralph Molina (drums)
Tracklist "Live Rust":
- Sugar Mountain
- I Am A Child
- Comes A Time
- After The Goldrush
- My My, Hey Hey (Out Of The Blue)
- When You Dance I Can Really Love
- The Loner
- The Needle And The Damage Done
- Lotta Love
- Sedan Delivery
- Powderfinger
- Cortez The Killer
- Cinnamon Girl
- Like A Hurricane
- Hey Hey, My My (Into The Black)
- Tonight’s The Night
Gesamtspielzeit: 75:53, Erscheinungsjahr: 1979 (Originalversion LP)
2 Kommentare
Michael Breuer
5. Mai 2020 um 19:06 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Hey Manni,
genial, dass Du Zodiac erwähnst, über die hab ich einst meine allererste CD-Review geschrieben – war damals aber das Debut "A Bit Of Devil", mit dem fantastischen "Coming Home". Die Version von Warren hab ich natürlich auch daheim. Einmal war ich live dabei, damals 2015 in Leuven bei Brüssel. Da haben Gov’t Mule mit "Cortez The Killer" den zweiten Set eröffnet. Ich hab geheult und zwei Tage später gab es in Paris eine nicht minder geniale Version von "I’d Rather Go Blind". Den Song darf man sich allerdings gern auch mal bei der Bröselmaschine anhören. Was Stella Tonon dort gesanglich heraus holt, ist magische Emotion.
Ich denke, entscheidend ist immer die persönliche Geschichte zu einer Platte oder einer bestimmten Version. Jeder hat da ja seine eigenen Erfahrungen und Bilder im Kopf und die prägen am Ende die Vorlieben. Ich war schon immer von der unglaublichen Mystik und Intensität von "Live Rust" völlig vereinnahmt, in Töne gefasste Liebe ohne jede Kompromisse. So gnadenlos hab ich das nie wieder erlebt, vielleicht mit einer Ausnahme. Hör Dir mal die Live-Version von "Weit, weit weg" an, als Hubert von Goisern noch seine Alpinkatzen um sich scharrte. Wenn der Stranzinger zum Solo ausholt, bleibt die Zeitrechnung stehen. Unbeschreiblich!
Mein einziges Neil-Erlebnis hatte ich 2001 in Oberhausen, auch mit Crazy Horse. Zwei-dreiviertel Stunden haben sie gespielt, inklusive "Like A Hurricane" und von der Decke herabgelassener Engelsflügel-Orgel. Man wusste ja nie, ob er die Nummer bringt. Zum Publikum sprach Neil damals kein Wort, aber seine Körpersprache war sehr positiv – würden die Sportreporter sagen. War ein geiles Konzert und als Vorband gab es unangekündigt:
The Black Crowes.
Wow!
Manni
5. Mai 2020 um 13:45 (UTC 1) Link zu diesem Kommentar
Michael, mach bitte weiter mit Reviews von Platten aus goldenen Zeiten 🙂
Neil sei es ewig gedankt, "Cortez The Killer" erfunden zu haben. Ich hab für mich jedoch zwei Versionen ausgemacht, die in meinen Lauschern selbst die Version auf Live Rust übertreffen.
Da ist zu einem eine über 14 Min. lange Jam-Version mit unglaublicher Stimmung und noch unglaublicheren Gitarren (von Warren Haynes und Marc Ford), die sich in die Gehörgänge schaukeln und schunkeln. Das ist dann Jam at its Best! (Erschienen auf "With A Little Help From My Friends").
Zum anderen ist da eine deutlich kraftvollere Version der deutschen Band Zodiac. Nicht die Studioversion auf "A Hiding Place", sondern die 9 Min. lange Liveversion auf der Bonusdisc vom Album "Sonic Child". Wenn ich einen strengen Maßstab an den abgenudelten Ausdruck "da qualmt der Gitarrenhals" anlege, gehört Zodiacs Gitarrist Nick Van Delft die Krone!
Diese beiden Versionen teilen sich, so unterschiedlich sie sind, bei mir den ersten Platz. Vor Neils eigener Einspielung!
Ganz groß waren Neil Young und Crazy Horse auch 8 Jahre vor den Aufnahmen von Live Rust, nämlich bei den Aufnahmen im Februar 1970 im Fillmore East zur Promo der Knallerplatte "Everybody Knows This Is Nowhere". Logo, dass da heftige Stromgitarren der Long-Tracks "Down By The River" und "Cowgirl In The Sand" zu hören sind. Der Klang ist – wie aus dem Fillmore East gewohnt – hochkarätig.
Die "Live At Fillmore East" wurde erst 2006 veröffentlicht, ein Jahr später dann das reine akustische Set "Live At Massey Hall" aus 1971. Beide lohnen sich!
Den Neil hab ich beim
Golden Summernight Festival 1982 auf den Rheinwiesen in LU erlebt. Und Mann, der kann mit schrägen Tönen ein Publikum auch mal richtig erschrecken 🙂