Es hätte wohl keine passendere Zeit geben könnte für die Musik von le_mol, mich zu erreichen. Denn ein fundamentales Anliegen der Band ist die Rolle des modernen Menschen, der von der allgegenwärtigen medialen Überfrachtung, der permanenten Gehetztheit zwischen Job, Familie und allen Auswüchsen der Spaßgesellschaft fast erschlagen wird und so den Blick auf wirklich wichtige Dinge am Ende aus den Augen verliert. »Entschleunigung passiert trotz unterbewusstem Wunsch danach oft nur in erzwungener Art und Weise, zum Beispiel durch ein tragisches Ereignis wie … einem Todesfall«, erklärt das Begleitmaterial und ich spüre einen Hauch fröstelnder Energie in meinem Nacken. Mit einem aktuellen Schicksalsschlag im Rücken und der großen Krise auf der Straße, wo die ganze Welt zwangsentschleunigt wurde, dringt dieser Hinweis natürlich besonders tief in mich.
Gut, als ehemaliger Bergsteiger, Naturfreund und überzeugter Fratzebuck- und Heute-Journal-Verweigerer habe ich für mich immer schon ganz gern Ballast abgeworfen und Momente der Einkehr gefunden. Und dennoch freue ich mich, dass eine junge Band ihr musikalisches Konzept einem derart wichtigen Thema widmet, denn diese unsere Gesellschaft droht schon lange an ihrer eigenen Überdrehtheit und mangelnden Reflexion auf die wesentlichen Dinge des Lebens und der Umwelt zu zerbrechen. "White Noise Everywhere" macht in subtilen und teilweise wirklich zutiefst bewegenden Soundkreationen darauf aufmerksam.
Schon die entrückte, sanft düstere Eröffnung zieht mich augenblicklich in das vorgegebene Thema und streift hier sogar für einen kurzen Moment die kürzlich besprochene Musik der Anna von Hausswolff. Doch nach etwa zwei Minuten trennen sich die Wege, denn jetzt gleiten wir sehr getragen in die wunderschön aufgebauten und langsam anwachsenden Gitarrenwände des Post Rock. Die Verwendung von Loops steht kompositorisch im Mittelpunkt des Schaffens von le_mol, die wiederkehrenden Klangschleifen absorbieren den gestressten Alltagsmenschen, erden ihn auf Ebenen mystischer Schönheit und setzen Anreize zu meditieren. Dabei geht es keineswegs nur gemächlich zur Sache. Schon der tolle Titelsong hält einige aufschäumende Passagen in bester Post Rock-Manier bereit, doch sogleich werden wir in "1/bruo" in unsere Moleküle aufgelöst, ein fremdes Universum scheint sich zu öffnen und kurzen Dialog mit uns zu suchen. Friedlich und ohne jede Aufregung.
Doch le_mol haben für "White Noise Everywhere" auch einen Vokal-Part in "Hands" eingespielt, der vom Universalkünstler Hans Platzgumer wahrgenommen wird. Dieser Song verfügt über eine ganz eigene, irgendwie fremde und doch warme Atmosphäre, der charismatische Gesang scheint wie durch einen Nebel durchzudringen. Oder aus einer anderen Dimension? Das leise leichte Break mit zwei mäandernden Gitarren wirkt hier besonders eindringlich und die subtilen Steigerungen bis hinein in einen aufregenden Klangkosmos vermitteln wirklich tröstliche Gefühle.
Ein neuerliches Interlude bremst uns ein wie eine Larve in ihrem Kokon, alles scheint still zu stehen und die Monotonie lässt alle Bewegung erschlaffen. Der Kontrast durch den Gewittereinschlag der Riffs zu "Takotsubo" könnte nicht heftiger ausfallen, doch nach diesem Aufmerksamkeitserreger mäandern die Gitarren gleich wieder so sanft in elegantem Ambient. Daraus baut sich ganz allmählich ein eindringlicher Rhythmus auf, weit im Hintergrund philosophiert ein schönes Piano nachdenklich über den Synthesizern, bis organisches Gebläse der Gastmusiker Michael Auinger, Dario Schwärzler und Markus Pechmann für einen vorläufigen Kulminationspunkt sorgen (ich hoffe, ich habe die handschriftlich im Booklet festgehaltenen Namen richtig identifiziert). Ist ist aber geradezu typisch für die Musik von le_mol, dass es danach gleich wieder abwärts geht mit der Amplitude für Lautstärke und Intensität, es geht auf und ab wie im Leben selbst. Wenn dann noch einmal einige aggressivere Akkorde angeschlagen werden, zeigt sich eine gewisse Nähe zum Noise Rock, auch wenn diese Passagen eher selten sind. Zusammen ergibt es einen faszinierenden Hybrid, der sperrig und keinesfalls leicht verdaulich daher kommt. Das liegt auch ganz sicher nicht im Interesse der Band und wer auf mögliche Irrwege in der Gesellschaft aufmerksam machen möchte, der wird das nicht erreichen mit Songs wie "Hoppsassa, wir fahren nach Mallorca".
Das feine und für mich gerade in dieser schwierigen Zeit unglaublich bewegende Piano zum Ende in "Por Que Esta Todo En Espanol?" kommt zu einem sehr melancholischen Schluss, doch das sanfte Glockenspiel im Hintergrund setzt einen optimistischen Kontrapunkt mit seinem organischen Wohlklang.
Die Musik lässt mich sehr nachdenklich zurück, doch tatsächlich, im Moment ruhe ich in mir. Entschleunigung eingetreten, Ziel erfüllt.
Produziert wurde das Album von Georg Gabler, dem ich im Zusammenhang mit Mother’s Cake mehrfach schon rein schreibtechnisch über den Weg gelaufen bin. le_mol bieten uns 33 Minuten nachdenklicher Musik mit schönen Klanglandschaften und einer sehr bedeutenden Botschaft. Diese Musik kann man nicht nebenbei hören, sie verlangt vom Zuhörer die gleiche Intensität, mit der sie entstanden ist. Dann aber erschließen sich einem wunderschöne Plattformen der Transzendenz und sehr viel Spielraum für Kopfkino. Die Ernsthaftigkeit des Konzeptes wird dabei sehr würdig und sensibel umgesetzt.
Gut gemacht!
Line-up le_mol:
Raimund Schlager (guitar, piano, synthesizer, glockenspiel, programming)
Sebastian Götzendorfer (drums, guitar, synthesizer, percussion, moog)
guests:
Hans Platzgumer (vocals #4)
Ines Dallaji (words #4)
Daniel Gschwendtner (word #4)
Florian Atzmüller (bass #2,4,6)
Michael Auinger (saxophon #6)
Dario Schwärzler (tuba #6)
Markus Pechmann (trumpet #6)
Tracklist "White Noise Everywhere":
- Mdme Psychosis
- White Noise Everywhere
- 1/f bruo
- Hands
- #ffffff limestone in july
- Takotsubo
- Por Que Esta Todo En Espanol?
Gesamtspielzeit: 33:52, Erscheinungsjahr: 2020
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