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Ash Ra Tempel / Gin Rosé – LP-Review

Ash Ra Tempel / Gin Rosé

Sie waren und sind die Großmeister der Berliner Schule, dort, wo elektronische Musik weltweit salonfähig gemacht wurde. Kaum jemand hat diese Szene derart beeinflusst wie Klaus Schulze und Manuel Göttsching sowie ihre legendäre Band Ash Ra Tempel, die sie 1970 zusammen mit Hartmut Enke zum Leben erweckten. Klaus verließ die Band jedoch nach dem Debütalbum und startete seine überragende Solo-Karriere. Auch Manuel produzierte während der Siebziger einige großartige Soloalben wie das bahnbrechende "Inventions For Elektric Guitar", immer noch eine meiner Lieblingsplatten in diesem Genre. Ab 1977 firmierte die Band unter der Kurzform Ashra und legte 1980 mit "Belle Alliance" ein geiles Album vor, wo Manuel Göttsching in "Aerogen" mit einem furiosen Solo beweist, dass er sehr wohl nicht nur sphärig-spacig klingen kann, diese Nummer geht ab wie ein Raketenstart und reißt mich heute noch aus dem Sessel.

All das war längst Geschichte und Vergangenheit, als die beiden Platzhirsche sich im April 2000 in der Royal Festival Hall in London zu einem Konzert versammelten, das später unter dem Namen der alten Mutterband Ash Ra Tempel und dem Titel "Gin Rosé" veröffentlicht wurde. Für mich eine wehmütige Erinnerung an die Location, wo ich vor vier Jahren noch mit meiner Mutter spazieren gegangen bin.

Berücksichtigt man die Entwicklung der beiden Musiker, deren Werdegang seit 1971 nur noch wenige Kreuzungen gefunden hatte, dann wird man verstehen, dass die Musik, die hier auf uns wartet, sehr viel mehr mit den beiden herausragenden Künstlern und ihren diversen Solo-Aktivitäten zu tun hat als tatsächlich mit Ash Ra Tempel. Die Grenzen dazwischen sind hingegen fließend.

Die Original-CD ist lange vergriffen und gebrauchte Einzelexemplare werden im Netz im dreistelligen Bereich gehandelt. Nun kehrt das Konzert zu uns zurück, zunächst als LP und im Oktober 2020 auch als CD und DVD. Das Vinyl erscheint übrigens dreiseitig, das heißt inklusive einer 'Blindseite', dergleichen hab ich seit "Epic Forest" von Rare Bird auch nicht mehr in der Hand gehabt. Und eine Verblüffung muss ich vor der Betrachtung der Musik unbedingt noch loswerden. Ist das nicht Alan Bangs, der die Band anmoderiert? Das Video auf der DVD wird es zeigen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Rockpalast-Held der ersten Stunde der Rocknächte dort zu hören ist.

"Gin Rosé" beginnt denn mit einem langen Intro, ganz so wie Klaus seine Solo-Alben auch eröffnet. Ein paar Minuten glucksen und gackern elektronische Sequenzen gemeinsam mit scheinbaren Kehlkopfgesängen wie die der tibetischen Mönche und geistern wie aufgewühlte Schmetterlinge durch die Atmosphäre, doch dann beruhigt der Meister mit seinen warmen, unterschwelligen Soundteppichen schwebender Orgelklänge die Stimmung und kreiert nun sanfte melodische Flüsse, wofür ich seine Musik schon immer so sehr geliebt habe. Es dauert eine ganze Weile, bis weit im Hintergrund dieser hypnotisch dahin treibenden Musik Manuel mit spärlichen Klängen der Hawaii-Gitarre erstmals präsent wird. Das alles ausfüllende, zarte Rauschen der Orgel umhüllt uns wie ein ewiger Strom endgültiger Wahrheit und Liebe, wie eine buddhistische Meditation. Das klingt deutlich mehr nach "Timewind" oder "X", legendäre Scheiben von Klaus denn nach Ash Ra Tempel. Aber gemach, in einer solchen Musik spielt Zeit keine Rolle mehr und wir werden noch Gelegenheit finden, in andere Sphären hinab zu tauchen. Denn wenn Manuel erstmals im Vordergrund auf seiner elektrischen Gitarre elaboriert und allmählich die Drummachine erste perkussive Andeutungen verlauten lässt, erfährt die Musik ein Crescendo und einen ganz anderen Duktus. Denn nun pulsiert "Gin Rosé" und beide Künstler spielen sich die Bälle über den anwachsenden Rhythmen immer mehr solierend zu, es entwickelt sich ein regelrechter Drive aus miteinander tanzenden Sequenzen zwischen Tasten und Saiten, was irgendwie eine sehr sinnliche Attitüde verströmt. Es ist dem Medium und seinem Fassungsvermögen geschuldet, dass etwa an dieser Stelle eine Überblendung von der A- zur B-Seite erfolgen muss. Aber dafür genießt man die volle Energie der analogen Klänge.

Im zweiten Part übernimmt Manuel erst einmal die Rhythmusarbeit und Klaus eskaliert sein Tastenimperium mit voller Wucht und Dynamik. Wenn dann die Gitarre sozusagen wieder die Führung übernimmt, liegen wir deutlich näher an den klassischen Sounds der Ash Ra Tempel und ich erinnere mich gerne an die WDR-Sendung "Schwingungen" mit Winfried Trenkler, der sein Programm einst sogar nach dem zweiten Album der Berliner benannt hatte. Im Hintergrund setzt Klaus nun chorale Klänge entgegen und die verstummenden Rhythmus-Sequenzen untermalen die Dramatik, mit der Manuel nun improvisiert. Das sind Momente, wo dir als Zuhörer der Zugang in andere Welten und Dimensionen geöffnet werden kann. Du musst nur intensiv genug hinhören. Einfach gespenstisch schön.

Diese getragene, herrliche Passage wird dann durch rhythmische Synthesizer-Applikationen aufgelöst, wir wechseln in ein anderes Stimmungsimperium, wo man für einen Moment eine gewisse Verwandtschaft mit Mike Oldfield erkennen könnte. Die synthetischen Drums begehren wieder auf und quirlige Tasten kristallisieren sich aus dem brodelnden Kessel. Hier ist Klaus der Treiber, bis die Gitarre in wunderschöner lautmalerischer Weise mit repetitiven Kreiseln zurückkehrt und die Improvisationen zwischen beiden hin- und herpendeln. Man spürt, dass wir einem finalen Ziel entgegen streben – auch wenn es nur ein Zwischenziel sein wird. Der Sog und die Intensität werden stärker und stärker. Und wenn Manuel immer reflektierter den Saft raus nimmt, während der Keyboard-Teppich sich langsam in Luft auflöst, dann haben wir das Ende von "Gin Rosé" erreicht, denn Teil 3 wird hier als "Eine pikante Variante" bezeichnet, so wie auf dem Original-Album einst das gesamte Konzert durchgängig als eine Nummer unter diesem Titel ausgewiesen wurde. Der Teil beginnt mit einer faszinierenden folkloristischen Akustikgitarre, von Klaus mit streicherähnlichen, sehr zarten Tönen untermalt.

Schön, dass man sich nun ähnlich viel Zeit nimmt wie zu Beginn, wo Klaus lange den Ton angab. Hier steht Manuel mit seiner Gitarre eindeutig an der Front und prägt die Harmonien, während im Hintergrund allmählich der Rhythmus hochgefahren wird und das Tasten-Fundament ganz allmählich an Kraft gewinnt. Diese lange, Saiten-orientierte Passage hat wohl die meisten Gene zur Ursprungsband.

Nach einem stark entschleunigenden Break übernimmt Klaus noch einmal mit unterschwellig driftenden Klängen und reflektierten Improvisationen den Staffelstab. Ein kreiselnder Sequenzer leitet allmählich den Schluss-Akt ein und plötzlich erscheint Manuels Gitarre aus dem Nichts und in einem besonders aggressiv verzerrten Sound. Jetzt hat es etwas von jener Power wie einst in "Aerogen". Die Drummachine fährt noch einmal hoch, jetzt köcheln die beiden Magier ein brodelndes Süppchen. Was für eine Energie, die nun freigesetzt wird, wow.
Mit dieser durchaus sehr rockigen Sequenz beschließt man letztlich das Konzert und wir dürfen uns glücklich schätzen, dass dieses großartige Tondokument noch einmal verlegt wird, denn an die Originalplatten von damals wäre man nur noch mit sehr viel Glück herangekommen.

Zwei Meister haben sich einst aufgemacht, vor dem Londoner Publikum an berühmter Stätte aus ihrem unerschöpflichen Reservoir aufzuspielen. Es war ein magischer Abend voller Inspiration, historischem Zeitgeist und man mag sich nur wünschen, dabei gewesen zu sein.

Klaus Schulze und Manuel Göttsching haben Geschichte geschrieben im Krautrock und sie waren Pioniere der Elektronik-Musik. Sie haben mich fast mein ganzes Leben lang mit ihrer Musik begleitet und verzaubert. Meine Herren, ich ziehe den Hut vor Ihnen!


Line-up Ash Ra Tempel:

Klaus Schulze (keyboards, drum machines, sequencing)
Manuel Göttsching (electric, acoustic and hawaiian guitar)

Tracklist "Gin Rosé":

Side A:
Gin Rosé Part 1

Side B:
Gin Rosé Part 2

Side C:
Eine Pikante Variante

Gesamtspielzeit: 69:57, Erscheinungsjahr: 2020 (Original 2000)

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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