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Flares / Spectra -CD-Review

Flares / Spectra

Flares stammen aus dem Raum Saarbrücken und sind bereits seit 2008 am Start. Auf ihrer Bandcamp-Seite bezeichnen sie sich als progressive Post Rock-Band. Damit verbunden war ein Entwicklungsprozess der Band, die zu Beginn keinesfalls eine klar umrissene Vorstellung davon hatte, wohin sich stilistisch ihre Musik entwickeln wird; ein Prozess, der zuletzt 2018 mit dem Album "Allegorhythms" in der beschriebenen Sparte kulminierte. Doch schon das Begleitmaterial bereitet uns vorsichtig darauf vor, dass diese lineare Entwicklung uns beim Verständnis der Musik von "Spectra" nur bedingt helfen wird, denn viele grundsätzliche Themen der Songs basieren auf Material, das schon vor dem ersten Album entstand. So unternehmen wir mit der Band einen Zeitsprung in eine Blase ihrer eigenen Vergangenheit; die Zeit, als man eben noch nicht die »progressive Post Rock-Band aus dem Südwesten Deutschlands« war.

Vorab möchte ich an dieser Stelle das begleitende Promo-Material mal ausdrücklich loben. Es ist kurz gefasst, in zwei Sprachen auf einer Seite, enthält alle wichtigen Fakten und erläutert knapp die Hintergründe des Albums, ohne selbst in epische Interpretationen zu verfallen wie so oft an anderer Stelle, wo ich mich als Schreibender dann frage, welchen Beitrag ich überhaupt noch leisten soll, wenn die Band oder ihre Beauftragte selbst mit einer Review aufwarten. Abschreiben wäre ein bisschen billig, oder?

Hier erfahren wir, dass die Idee zur Musik auf "Spectra" einem brandaktuellen, zeitgenössischem Thema entnommen ist. Es geht um die gnadenlose Ausbeutung der Ressourcen unseres Planeten, der uns bereits bedrohliche Warnsignale aussendet, genauso wie um die menschliche Entfremdung und Vereinsamung einer immer mehr digitalisierten Welt. Heute, wo Millionen Menschen Freunde nur noch von Facebook her kennen; heute, wo Kinder sieben Wochen in den Ferien hinter Computern sitzen, anstatt schwimmen zu gehen, Hütten zu bauen und Fußball zu spielen. Die Metapher dieser Entfremdung wird in den Weltenraum transformiert, so als ob jedes Individuum ganz allein sich selbst ausgesetzt ins Universum reist und nach dem Sinn des Lebens sucht. Dave Bowman 2020 sozusagen. Diese Erkenntnisse vermitteln auch den Sinn der zunächst so merkwürdig anmutenden Songtitel. Wie eine schlaue Web-Seite informiert, sind Sterne prinzipiell in sieben Spektralklassen eingeteilt, basierend auf ihrer gasförmigen Charakteristik, der Farbe und der Oberflächentemperatur. Bingo, mit letzterer Ausprägung landen wir bei unseren sieben Songtiteln.

Aber orientieren müssen wir uns völlig neu, schon "40.000", die erste Nummer, hat mehr 80er-Jahre-Flair und Wave und Synthie in sich, als ich es erwartet hätte – bis heftige Riffs dem Ganzen einen sehr undergroundigen Heavy-Part verpassen. Wow, hier wird es heiß wie in der Spektralklasse  O, die mit der Farbe blau assoziiert wird. Von dort an geht es über gelb ins rot – eigentlich reziprok der kumuliert reduzierenden Temperatur, ich hätte rot heißer empfunden als blau. Das Cover folgt dem übrigens sehr schön! Fakt ist aber auch, dass nach dem lebhaften Auftakt bereits "20.000" schwer und sphärisch im Raum zu hängen scheint. Mit Lyrics, die eintönig murmelnd an die Sprachsequenz des legendären Monkey 3-Epos "Icarus" erinnert, dann, wenn derselbe tief im Raum schwebt und nicht recht weiß, was gleich auf ihn zukommt. Ein Zitat auf eine meiner Lieblingsbands? Hey…

Die Wasserstoff, Calcium-Ebene in "8.500" verbindet uns ein Stück weit mit dem, was die Band später nach ihren ersten Geh-Versuchen tat. Die Synthie-Töne überraschen mich da trotz allem immer wieder, bin ich doch nicht allzu sehr vertraut damit. Die Gesänge hingen schon bis hierhin irgendwie frei schwebend und seltsam teilnahmslos im Raum, sicher als Metapher auf die fehlenden zwischenmenschlichen Kontakte der Grundidee gedacht. In der nächsten Entschleunigung auf schlappe "6.500" Grad Oberflächentemperatur werden wir hingegen von einer warmen weiblichen Stimme aufgenommen. Die Keyboards artikulieren sich ein bisschen satter als zuvor und der treibende und sehr dynamische Drive wird mit fetten Gitarren und Backgrund-Vocals aufgepeppt. Hier scheinen die Dinge am ehesten zu einem guten Ende führen zu können.

Ein kurzes, aber sehr ambientes und reflektierendes Interlude führt uns in die Größenordnung von Alpha Centauri, endlich mal ein Stern, den ich aus meinem literarischen Science Fiction-Konsum kenne. Erstaunlicherweise hat der Abstieg in die nächst tiefere Stufe fast einen Hauch von reflektierter Romantik und Melodik. Kurze Passage erinnern ein wenig an My Sleeping Karma, Meister des instrumentalen Rocks aus Aschaffenburg. Ja, die melodischen Harmonien überwiegen hier eindeutig und stellen sich ein wenig quer zum düsteren Bild der Grundmetapher. Die Synthies dürfen hier recht progressiv ausholen, gestalten eine kraftvolle Basis mit allerlei Keyboard-Implikationen und einem rockigen Gitarren-out.

Die Reise durch das Universum der unterschiedlich temperierten Gestirne und einsam dahin driftenden Individuen findet ein rasches Ende, die dreißig Minuten-Marke wird nicht erreicht. "3.200", die Sternenklasse für rot-orange Titanoxid-Riesen wie Proxima Centauri oder die Beteigeuze, erschließt dem Science Fiction-Fan schöne Backflashs. Proxima Centauri war ja das Ziel der Event Horizon (hab ich zufällig gestern mal wieder gesehen) und die landete dann kurzerhand mal eben in der Hölle, während im "Anhalter durch die Galaxis" unser Freund Ford Prefect von einem kleinen Planeten in der Nähe der Beteigeuze stammt und mit Zaphod Beeblebrox verwandt ist, der zwei Köpfe hat, Präsident des Universums ist und mit dem pangalaktischen Donnergurgler den härtesten Fusel im Reich der bekannten Welten erfunden hat.

Äußerst unterschiedliche Herangehensweisen an interstellare Themenkreise.
Hier hat der Song einen sehr natürlichen Flow mit schönen Gitarren und einer nun wieder eindeutiger zuzuordnenden Orientierung zum progressiven Post Rock. Am Ende kommt man aus der Reise in die Vergangenheit zurück zu den modernen Wurzeln. Aus Back-To-The-Roots- wird Back-To-The-Roots. Ein Sprung zwischen den Zeiten, aber hin und her. Schöne Geschichte.

Das theoretische Konzept wird durch oftmals defensiv hängende Gesänge, trotz allem postrockiger Gitarre und mitunter kontroverser Keyboards gut umgesetzt und die thematische Metapher wird nachhaltig erfüllt. Die zugrunde liegende Thematik sollte uns ohnehin alle nachdenklich machen. Ich finde es Klasse, dass immer wieder deutsche Rock-Gruppen aus dem Underground sich jenseits des medienbestimmten Mainstream mit den schwerwiegenden Problemen der zeitgenössischen Gesellschaft auseinander setzen. Wenn man noch dazu einen derart authentischen musikalischen Stempel drauf setzt – umso besser.
Hier passt das gedankliche Konzept mit der musikalischen Umsetzung überein. Touch down, würde ich sagen.


Line-up Flares:

Christian Detzer (guitar)
Mike Balzer (synth, programming)
Dmitro Fedoruk (bass)
Christian Schönlaub (drums, bass)
Tobias Weber (percussion)

Tracklist Spectra:

  1. 40.000
  2. 20.000
  3. 8.500
  4. 6.500
  5. 5.700
  6. 4.500
  7. 3.200

Gesamtspielzeit: 28:44, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Michael Breuer

Hauptgenres: Gov´t Mule bzw. Jam Rock, Stoner und Psychedelic, manchmal Prog, gerne Blues oder Fusion

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