Nun ist er da, der vierte Teil aus der Reihe "KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979" von Bear Family Records. Dieser Teil widmet sich Bands aus dem Westen Berlins, wobei mir der Gedanke kommt, dass es sicher auch lohnenswert wäre, sich einmal Bands aus dem ehemaligen Osten der Republik zuzuwenden. Da gab es auch jede Menge guter Gruppen, fernab der bekannten Platzhirsche.
Eigentlich nicht mehr erwähnenswert, weil geliebter und gelobter Standard bei der Bärenfamilie möchte ich trotzdem wieder das 128-seitige Booklet loben, in dem Burghard Rausch erneut akribisch viele Information zusammengetragen hat und den beiden CDs viel Lesestoff mitgegeben hat.
Nach dem Start mit einem damaligen Aushängeschild der Krautrockszene, Karthago, geht es mit Birth Control in die harte Ecke des Krauts. Unbestritten ist "Gamma Ray" die bekannteste Nummer der Band um den 2014 verstorbenen Bernd 'Nossi' Noske, der für mich, Hugo Egon Balder hin oder her, immer der Mann an der Schießbude der Band war. Zumal Birth Control mit Noske und dann auch Bruno Frenzel den musikalischen Weg einschlugen, der die Band voranbrachte. Dass mit Covergestaltungen gerne 'gespielt' wurde, dürfte bekannt sein, zumal analog dazu auch damals der Bandname provozierte. Wer kennt es nicht, das Cover der Live-Scheibe, auf dem sich die 25-minütige Königsversion von "Gamma Ray" befindet? Auf vorliegender Kompilation hat man die fast 10-minütige 'Kurzausgabe' von dem Album Hoodoo Man gepackt. Aber ob nun zehn oder zwanzig Minuten, es ändert nichts daran, dass das Drumsolo wohl für immer zu den besten und bekanntesten zählen wird.
Mit Os Mundi folgt eine Truppe, die sich selbst als »Erste Berliner Rock-Big-Band« bezeichnete und bis zu zwölf Mann stark war. "Children’s Games" ist ein krautiges Stück psychedelischen Fusion Rocks und hat rhythmisch einiges zu bieten, da zwei Drummer am Werkeln sind. Eine sehr interessante Band sind Die Dissidenten, deren Ursuppe aus – Nomen est Omen – ausgestiegenen Embryo-Musikern bestand. Musikalisch verließen sie aber im weiteren Verlauf das weit abgesteckte Feld des Kraut Rock und orientierten sich, auch personell angewachsen, an Musik aus Asien und Afrika. Musiker aus diesen Ländern bereicherten die Musik stilistisch und kulturell, sodass der 'Rolling Stone' den Titel »Godfathers Of World Beat« verlieh. Das vorliegende Stück "Germanistan" stammt vom gleichnamigen Debütalbum, welches 1982 im Palast von Maharaja Bhalkrishna Bharti of Gondagao in Indien aufgenommen wurde.
Psychedelisch und jazzig geht es mit den mir bis dato unbekannten Metropolis weiter. Das brodelnde "Dreamweaver" macht Appetit auf mehr von dieser Band. Die Sängerin Ute Kannenberg, so lernen wir aus dem Booklet, war auch als Schlagersängerin Tanja Berg unterwegs und ja, ihr Hitparadensong "Ich hab' Dir nie den Himmel versprochen" kommt mir bekannt vor.
Unter Polit Rock darf man wohl Lokomotive Kreuzberg (aus denen später die Nina Hagen Band und später Spliff wurde) sowie Ton Steine Scherben mit Rio Reiser verbuchen. Krautig wird es dann wieder mit Mythos und dem Track "Eternity" aus dem 1975er Album "Dreamlab". Stephan Kaskes Flötenspiel erinnert ein wenig an Tull und durch Mellotron und Gitarrenspiel wirkt die Nummer schön krautig progressiv. Emtidi dagegen zelebrieren einen wohligen Kraut Folk und sind die zweite Band auf dem Doppeldecker, die ich nun neu kennenlernen durfte.
Die beiden letzten Beiträge auf CD 1 von Agitation Free und Ash Ra Tempel sowie im Prinzip die komplette zweite CD fallen unter den Begriff der Berliner Schule. Ash Ra Tempels "Light And Darkness: Light – Look At Your Sun" leitet eine krautig, spacige und elektronische Reise in des Hörers Hirn ein, die mit den beiden Minutenmonstern von Tangerine Dream und Klaus Schulze auch die hintersten Hirnwindungen besucht. Das sind herrliche Kontraste zur ersten CD und zeigen – wieder einmal – die Bandbreite auf, aus denen sich der Begriff Kraut Rock zusammensetzt.
Hans-Joachim Roedelius, mittlerweile 86 Jahre alt, darf man getrost als Pionier der Experimental- und Elektromusik bezeichnen. Die letzten vier Tracks auf der zweiten CD sind dann auch verdient diesem Mann gewidmet, der auch als Fotograf, Poet und Filmer bekannt ist. Neben seinem Solostück "Regenmacher" wirkt er auch bei Cluster, Harmonia und Human Being mit. Zeitlich war die Bandreihenfolge Human Being, 1968 dann Kluster, die sich nach einer Weile in Cluster umbenannten und 1973 (mit Michael Rother) die Band Harmonia. Die vier Stücke mit Roedelius sind wahrscheinlich mit das Experimentellste, was der Kraut Rock zu bieten hatte.
Acht Platten, 86 Bands und fast 450 Seiten geballte Information, so das Resümee der Kraut Rock-Reihe. Und es gäbe sicher noch viele weitere Musiker, die man gerne in dieser Serie gesehen hätte. Aber das würde den Rahmen sprengen. Viele weitere Gruppen haben wir sicher in unseren Regalen stehen oder aber erinnern uns an sie. Und ich habe auf den vier Doppeldeckern so einiges Unbekanntes entdeckt und Wissenslücken geschlossen. Klasse Sache!
Die Teile 1 bis 3 könnt hier hier nachlesen:
Tracklist "KRAUT! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968 – 1979 – Teil 4":
- Karthago: Don’t Send Me Your Money, Send Me Your Heart (5:15)
- Birth Control: Gamma Ray (9:45)
- Os Mundi: Children’s Games (8:01)
- Dissidenten: Germanistan (6:01)
- Metropolis: Dreamweaver (6:29)
- Lokomotive Kreuzberg: Nostalgie (5:46)
- Ton Steine Scherben: Halt Dich an Deiner Liebe fest (6:58)
- Mythos: Eternity (7:10)
- Emtidi: Saat (4:09)
- Agitation Free: Malesch (8:30)
- Ash Ra Tempel: Light And Darkness: Light – Look At Your Sun (6:31)
- Tangerine Dream: Phaedra (17:34)
- Klaus Schulze: Ways Of Changes (17:14)
- Cluster (Kluster-Qluaster): Rote Riki (6:09)
- Harmonia: Walky Talky (10:41)
- Hans-Joachim Roedelius: Regenmacher (6:37)
- Human Being: Human Being 1 [Edit] (17:25)
Gesamtspielzeit: 74:38 (CD 1), 75:36 (CD 2), Erscheinungsjahr: 2020
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