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George Leitenberger / Blackbox – CD-Review

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Wer immer schon einmal in den Sound der Corona-Pandemie hinein hören wollte, der findet passendes Material bei George Leitenberger. Wenngleich der Singer-Songwriter diesen Anspruch nicht für sich proklamiert hat, so dürfte ihm angesichts eines solchen Vergleichs kein Unrecht geschehen.

»Songs über Verrat und Vergebung, Hoffnung und Corona« hat der kosmopolitische Liedermacher mit Wahlheimat Genf sein siebentes Album "Blackbox" überschrieben und gibt damit die Richtung vor. Schönwetter ist hier nicht zu erwarten. Der Begriff 'Blackbox' steht für eine Rückschau mit einem Flugschreiber. Textlich nimmt Leitenberger kein Blatt vor den Mund. Die handgemachten und melancholischen Lieder beinhalten zugleich sehr persönliche Betrachtungen.

"Birdy" ist eine Hommage an den 2017 verstorbenen Schauspieler Andreas Schmidt (1963 – 2017). "Ms Esperanza" schrieb der Musiker nach dem Tod seiner Schwester im Jahr 2016.

Während viele Künstler davon berichten, wie sie der Pandemie trotzen oder unter dieser schwierigen Situation leiden, tritt Georg Leitenberger die Flucht nach vorne an. Er hatte dafür sein ursprüngliches Vorhaben völlig umgekrempelt und seine CD völlig neu ausgerichtet.

Im Januar 2020 war er in Genf angetreten, mit musikalischen Partnern in fast schon intimer Umgebung Stücke aufzunehmen, ehe das passierte, was der Künstler wie folgt beschreibt: »Und dann passierte es, das völlig Unerwartete, das seither unser aller Leben ziemlich auf den Kopf gestellt hat: Covid 19, Corona, Pandemie, Lockdown, Social distancing, etc. – kurz: wirklich große Quarantäne-Kacke (kaum Konzerte, Studioarbeit, Einnahmen…vom Feinsten). "Blackbox", diesmal ganz auf Deutsch, ist ein Album, das, wie der Name schon sagt, versucht, einen Crash auszuwerten und aufzuarbeiten.« Zu diesem Zeitpunkt war das ursprünglich geplante Album schon so gut wie fertiggestellt. Trotzdem kam es zu der musikalischen Kehrtwende, bei der außerdem private Ereignisse eine Rolle spielten.

Von den 17 Stücken beschäftigen sich zwar nur drei unmittelbar mit Corona, doch darf man diese Kompositionen getrost als prägend für das Album bezeichnen. "Richtung Riff", "Zeitenwende" und "Schwarze Schwäne" befassen sich mit besagter Krise. Sie sind laut Leitenberger seine "Lockdown-Lieder", wie er es selbst nennt.

Seine Texte erinnern mich haargenau an jene Situation, wie sie vor rund einem Jahr in Deutschland auszumachen war. Viele glaubten damals, durch diese Krise würde ein Aufbruch durchs Land gehen und die Menschen würden enger zusammen rücken. Von all dem ist nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Wir erleben heute eine gespaltene Gesellschaft, wobei in der aktuellen Wahrnehmung schon jetzt ein zugespitzter Wahlkampf zu spüren ist.

Deshalb darf man die analytischen Texte auf "Blackbox" gut und gern als Aufschrei oder als gesellschaftliche Momentaufnahme sehen. Für mich sind sie in jeder Hinsicht ehrlich. Ein Künstler, der in der Krise Haltung zeigt. Das Album würde ich mit dem Begriff gesungene Literatur umschreiben. Das allein deshalb, weil Leitenbergers Stil schwer auszumachen und vielschichtig ist. Es reicht vom melodischen Country-Blues über Sprechgesang bei "Chelsea Boots" bis zu Singer/Songwriter-Traditionen, die Einflüsse von Bob Dylan und Leonard Cohen erkennen lassen.

Auf seiner Homepage gibt der Autor seinen Stücken ein Gesicht. Es gibt zu allen Liedern Anmerkungen. Dort, wo es Videos zu sehen gibt, sind diese eingeblendet. Bemerkenswert ist, dass es "Zeitenwende" bereits in einer polnischen Fassung gibt. Mirosław Czyżykiewicz hat sich dem Stück angenommen. Die Übersetzung stammt von Leszek Berge. Auch hier gibt es einen Link zu YouTube.

Das Booklet ist ein Fundus anspruchsvoller Texte mit Tiefgang. Es enthält an manchen Stellen zusätzliche Notizen, die die jeweiligen Zeilen aus persönlicher Sicht ergänzen, getreu der eingangs zitierten Worte "Songs über Verrat und Vergebung. Hoffnung und Corona". Texte zum Innehalten!

Zu "Schwarze Schwäne" lesen wir als Zusatz: »Corona war der Wake-up-call, ein weiterer Schwarzer Schwan: Haltet ein, dreht um, denkt neu, handelt nachhaltig, mensch-orientiert, langfristig! Und wir, was machen wir wirklich? Wir schaufeln fleißig weiter, nein – nicht auf der Baustelle, die man Zukunft nennt. Sondern am Grab unserer Kinder.«

"Blackbox" ist gewiss kein Album für ein ausgemachtes Rockerherz. Aber es lohnt sich, sich auf diese Produktion mit ausgesprochen leisen Tönen einzulassen. Gerade in diesen Tagen. Ich habe viele Durchläufe benötigt, um den erhofften Zugang zu finden. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich auf diese Weise meinen Horizont erweitern konnte.


Line-up George Leitenberger:

George Leitenberger (Gesang, Gitarren, Banjo, Harmonika, Brummeisen und Melodika)
Nora Beisel (Gesang)
Tobias Fleischer (E-Bass)
Sebastian Pietsch (Tenorsaxophon)
Andreas Albrecht (Schlagwerk, Gesang und Produktion)
Clarissa Mo (E-Bass, Kontrabass, Gesang)
Klaus Eichberger (Klavier, Orgel, Akkordeon)
Roddy McKinnon (E-Gitarre, Akustik-Gitarre)

Tracklist "Blackbox":

  1. Lass Los
  2. Richtung Riff
  3. Birdy
  4. Zeitenwende
  5. Zauberberg
  6. Schwarze Schwäne
  7. Kein Wunder
  8. Spuren
  9. Chelsea Boots
  10. Unterwegs #2
  11. Friedrich
  12. Schleicher
  13. Zweite Halbzeit
  14. Skydevil
  15. Preiswert
  16. Lady K & Jackieboy
  17. Ms Esperanza

Gesamtspielzeit: 66:52, Erscheinungsjahr: 2020

Über den Autor

Mario Keim

Musikstile: Heavy Rock, Rock, Deutschrock, Hard Rock
Marios Beiträge im RockTimes-Archiv

2 Kommentare

  1. George Leitenberger

    Lieber Mario,

    vielen Dank dafür, dass Du dir die Zeit genommen hast.

    Grüsse aus Genf

    George Leitenberger

    1. Mario Keim

      Lieber George Leitenberger,
      für die Worte als Antwort auf meine Review möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Es kommt nicht so oft vor, dass sich hier ein Künstler verewigt. Deshalb werte ich dies als eine große Ehre. Schon unserer „Chefin“ Ilka habe ich mitgeteilt, dass mich diese Reaktion gerührt hat.
      Dieser eine Satz drückt genau das aus, was mich beim Schreiben bewegt hat. Ich habe mich bewusst auf die CD eingelassen und genau hingehört. Deshalb fiel mir das Schreiben am Ende nicht schwer. Gewiss sind bei mir über Jahrzehnte Genre gereift, die ich besonders bevorzuge. Aber ich habe immer den Blick über den Tellerrand hinaus gesucht. So darf ich mich an dieser Stelle posthum bei meinen Vater bedanken, der mir als Musiklehrer Toleranz gelehrt hat und dafür sorgte, dass bei mir Klassik und Heavy Metal über mehrere Jahrzehnte nebeneinander gedeihen durften. Bis heute sehe ich darin keinen Widerspruch. Musik sollte es schaffen, Grenzen zu überwinden. In jeder Hinsicht. Darin sehe ich eine wichtige Mission. Das traf für mich beim Schreiben dieser Review zu. Diese Botschaft richtet sich an den Autor sowie an die Leserinnen und Leser.
      Liebe Grüße zurück nach Genf und alles Gute.
      Mario

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