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Estrada Orchestra / Playground – CDR-Review

Estrada Orchestra / Playground – CDR-Review

Zarte Geister kann man durchaus erschrecken, wenn man ihnen von Deep Space Jazz, Drone Jazz, estnischen Straßenmusikern, einem Album bestehend aus ’nur' zwei Stücken, Saxofon und Synthesizer usw. erzählt. Da gibt es keinen Reim-2-3-4-Refrain-und-wieder-von-vorn. Was es aber gibt, ist erst einmal eine gespannte Erwartung, denn in der Tat mögen Klischees eine Spur hin in Richtung schwerer Kost legen.

Und es ist keine leichte Kost, wenngleich sie es irgendwie doch ist, denn trotz aller scheinbarer Improvisation steckt ein ausgeklügeltes Konzept hinter den beiden Kompositionen. Nämlich das, dem Zuhörer ein Tor zu öffnen, durch das er auf eine Kopf-Reise gehen kann. Ganz im Drone-Stil erschrickt man den Reisenden nicht mit musikalischen Eskapaden, sondern lässt die Musik fließen und das auf äußerst angenehme und barrierefreie Weise.

Also nicht von dem Wort Jazz erschrecken lassen und schon gar nicht vor dem Begriff Improvisation. Letzteren Ausdruck habe ich (für mich) gewählt, weil ich mir vorstellen kann, dass wohl die Marschrichtung vorgegeben ist, ansonsten die Musiker aber in einem abgesteckten Rahmen ihren Part beisteuern. Aufgenommen wurde live und zwar am 21. November 2020 auf dem Ganna & Sofia Playground Dance Workshop in der Hauptstadt Estlands, Tallinn.

Spacig relaxt webt der Synthesizer das Netz und schafft eine wohlige Atmosphäre, die durch gekonnte Percussion und Schlagzeugspiel repetitive Wohlfühlschauer auslöst. Hier und da blitzt eine etwas lautere Note auf, ohne jedoch den Flow zu zerstören. Playground Dance Workshop hört sich nach Tanzen an, jedoch dürfen bei vorliegendem Album auch all jene Tanzen, die ansonsten einen großen Bogen um diese Art der Bewegung machen. Selbst einbeinig kann zu dieser Musik getanzt werden, denn es wäre eher ein sich in Trance schaukeln mit maximal einer Körperdrehung pro halber Stunde.

Es liegt eine gehörige Portion World in der Luft und in das luftig von Elektronik, Bass und Percussion gewebte Klangkleid mischen sich immer wieder kleine Accessoires in Form von zum Beispiel zart gehauchten Saxofon Passagen, die mal leicht jazzig oder aber fernöstlich auf den Synthi-Schwingen reiten. Auch Bass und Schlagzeig setzen Tüpfelchen, ohne aber je den eigentlich psychedelisch abgesteckten Raum zu verlassen.

Nun ja, dass sich das Estrada Orchestra auf "Playground" musikalisch von den Anfängen entfernt hat, kann man im Beipackzettel nachlesen. Das 2013 aus Plattensammlern, Straßenmusiken, DJs sowie klassisch ausgebildeten Musikern entstandene Projekt trat an, um »Musik zwischen repetitivem Funk (z. B. Bohannon) und Freejazz à la Ornette Coleman zu kreieren«. Über die Jahre, so das Label, wandelte sich die Musik aber immer mehr in Richtung Kraut- und Space Rock. Und genau da kann man die beiden Stücke auch problemlos einordnen, so man das will. Drone, Ambient, Kraut, Space, Pschyedelic … es mag sich ein jeder seine Schublade selbst zimmern. Für mich stecken all dies Stile in mehr oder minder starker Konzentration im Output. Da doch einige ethnische Elemente herauszuhören sind, könnte man auch von musikalischer Ethnie an sich sprechen: World Music.

Estland ist übrigens nicht zum ersten Mal in RockTimes vertreten, die Musikszene im Land an der Grenze zu Russland scheint ihren Platz in der Rockmusik gefunden zu haben. Wie die beiden Estrada Orchestra-Musiker Misha Panfilov und Volodja Brodsky, die mit ihrer Band Centre El Muusa im Herbst des vergangenen Jahres großartig debütierten.

"Playground" eigent sich hervorragend, um einmal vom Alltag abzuschalten, um herunter zu kommen und sich einfach treiben zu lassen. Dass die 43 Minuten Enstpannung einmal unterbrochen werden muss, ist der Tatsache geschuldet, dass es das Album physisch lediglich als Vinylausgabe (mit Downloadcode) gibt; und zwar 180 g schwer, kristallklar und auf 500 Exemplare limitiert.


Line-up Estrada Orchestra:

Sasha Petrov (tenor sax, percussion)
Madis Katkosilt (drums, percussion)
Volodja Brodsky (synthesizer, Wurlitzer piano)
Misha Panfilov (electric bass, percussion)

Tracklist "Playground":

  1. Playground Part 1 (22:08)
  2. Playground Part 2 & 3 (20:52)

Gesamtspielzeit 43:00, Erscheinungsjahr: 2021

Über den Autor

Ulli Heiser

Hauptgenres: Mittlerweile alles, was mich anspricht
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