Die RockTimer: Ingolf
Für uns 1961 Geborene entschied sich an der Mauer unsere Zukunft, je nachdem, ob wir diesseits oder jenseits von Beton und Stacheldraht zur Welt kamen.
Ich selber hatte das Vergnügen, meiner Bestimmung als wohlbehüteter Passagier auf dem Seelenverkäufer namens Deutsche Demokratische Republik zu fristen, und diesen mit meinem querulantischen Gedankengut jenseits des 'Schwarzen Kanals' zu bombardieren.
Wir brüllten unseren Protest gegen alle Wände der elterlichen Wohnung, doch unsere Mütter ließen sich nicht dazu herab, uns dauerhaft aus diesen Gefängnissen zu befreien.
Draußen tobte der 'Kalte Krieg' und "Raumschiff Orion" machte das All unsicher, was mich dazu veranlasste, in meine eigene kleine Welt zu flüchten. Wir konnten die zehn Gebote Gottes oder die elf Gesetze der Thälmannpioniere auswendig hersagen, deren Wichtigkeit auf dem Wege des Erwachsenwerdens sich in Wohlgefallen auflöste.
Im Westen wie im Osten der Republik war der Fernsehtag abends um Acht mit der Tagesschau für uns beendet, meine Odyssee durch die Ultrakurzwellen mit einem Minimpfänger unter der Bettdecke nahm damit seinen Anfang.
Eines Abends hörte ich einen Song, der mich bis heute nicht mehr loslassen sollte und den Grundstein für meine Lebensmoral festlegte.
"My Generation" von der aufregenden Beatkapelle The Who, dessen zotteliger und meist blankbrüstiger Frontmann zu meiner späteren Leitfigur, und das nicht nur auf Bravo-Starschnitt, avancierte.
Überhaupt entwickelte ich ein Faible für Musikergruppierungen, die anders sein wollten wie die Anderen. Meine 'Boygroups' hießen The Move, Small Faces, The Kinks oder Pink Floyd.
Die Jugend gab sich mittlerweile mit den Lebens- und Gesellschaftsentwürfen ihrer Elterngeneration nicht mehr zufrieden. J.F. Kennedy und Rudi Dutschke fielen dem System zum Opfer, die Love And Peace-Bewegung und der Geist von Woodstock schwappte über den großen Teich zu uns und die Boygroup schlechthin, nämlich The Beatles beendete ihre Karriere.
Meine Sucht nach Musik der verschiedensten Stilarten, die uns der Rock'n'Roll darbot, rettete mich über eine nicht gerade durch Gesundheit verwöhnte Jugend.
Das Diktat des Arbeiter-und-Bauern-Staates versagte mir eine kreative Berufsausbildung, und so ergab ich mich dem Schicksal eines unliebsamen Arrangements, welches fast zwei Jahrzehnte andauern sollte. Unser Oberdiktator Erich Honecker betrat die Machttribüne und versprach uns blühende Landschaften.
[Anm.d.V.: Kommt mir heute irgendwie bekannt vor.]
Wir überstanden so manchen heißen Herbst und wurden politisch, 'Hüben' wie auch 'Drüben' gründlich verKohlt.
Mit Kleidung und Frisur brachten wir unseren Protest zum Ausdruck, aus lustigen Uniformen wurden Jeans und schäbige Lederjacken, die Haare immer länger und unsere alltäglichen Rituale bzw. Freizeit beschränkten sich immer mehr auf Alkohol, Zigaretten und laute Mugge.
Es lag uns zumindest fern gesellschaftstauglich zu sein, unsere Priorität bestand im Wesentlichen darin, individuell zu sein bzw. unsere Umwelt zu schockieren. Egal was um uns herum geschah, die Musik war in unseren Köpfen das Manifest. Und ich überstand mit Genuss die krautigen, progressiven, wavigen, punkigen und metallischen Epochen, versüßte sie mir mit so manchem Tinitus-berührenden Konzertereignis und lernte viele Musiker auch privat zu schätzen.
Aus dieser Leidenschaft heraus entwickelte sich bei mir das Bedürfnis, meine Eindrücke, Empfindungen oder Philosophien über diverse musikalische In- und Outputs dem geneigten Konsumenten im Osten der Republik via Mundpropaganda, später dann Schwarz auf Weis heranzutragen.
Dabei interessierte mich so manche hoffnungsvolle Musikkapelle und deren beschwerlicher Karriereweg, was ich auch dank der guten alten Post über den Eisernen Vorhang verfolgen konnte. Egal welcher Zeitgeist uns auch intervenierte, die Musik und deren Umfeld spielte bei mir fast immer die Hauptrolle, und ein Zitat aus einem meiner Lieblingsfilme, "Almost Famous", beschreibt mein freies Schaffen gar so trefflich:
»Wenn Du Deine Freunde treffen möchtest, so gehe in den nächsten Plattenladen.«
Unsere gute alte Schallplatte wurde von kleinen, silbernen Scheiben abgelöst, die Meisten fanden es aufregend, Unsereiner frönte bzw. huldigte aber immer noch dem Knistern und Knacken vom Vinyl.
An jenem Tag im November des Jahres 1989, saßen wir gebannt und ziemlich ungläubig vor den Fernsehgeräten bzw. begriffen erst später, dass dieser denkwürdige Abend die Geschichte unseres Landes und damit auch das Unsere nachhaltig verändern sollte. Schlagwörter wie Neue Bundesländer, Besserwessi oder Outing wurden aus der Taufe gehoben und das Bedürfnis, unsere musikalischen Helden von 'Damals' jetzt endlich livehaftig zu konsumieren, erfüllten wir uns maßlos.
Ja seitdem ist sehr viel Zeit ins Land gegangen, ich persönlich wurde in den Alters(un)ruhestand katapultiert und unser Land und die Leute mussten so manches Hoch und Tief bewältigen.
Selbst unsere ehemalige Ostrock-Mentalität musste sich allmählich ihren Platz in der heimische Musikbranche wieder erobern. Die Musik bleibt eben eine Kraft, die sich den Widrigkeiten der Gesellschaft und Lebenskrisen immer entgegenstellt, Menschen aller Klassenschichten verbündet und sich keinem Diktat (von einigen Stilblüten einmal abgesehen) unterwirft.
Vor knapp zwei Jahren traf ich für mich die wohl beste Entscheidung meines bisherigen Lebens, nämlich meinen Wohnsitz endgültig in die thüringische Landeshauptstadt zu verlagern, um letztendlich näher am künstlerischen und kulturellen Puls zu sein, mich auszuprobieren und nun für RockTimes nebst meinen Rezensionsergüssen, auch faszinierende Konzertmomente einzufangen.
Ich betrachte meine Schreibertätigkeit und gelegentliche Co-Moderation bei Radio Frei als einen Prozess, der ständig in Bewegung ist und mir nebenbei den Psychologen erspart.
Stilistisch vielschichtige Lieblingsalben habe ich eine Menge, aber es gibt eine Platte, die mich garantiert immer selig stimmt, und das ist "Who's Next" von The Who.
Unter den hunderten Konzerten, die ich erleben durfte, gab es einfach so viele magische Momente, dass es hier den Rahmen sprengen würde alle aufzuzählen. Stellvertretend seien hier nur genannt:
Carlos Santana, 5. April 1985, Palast der Republik, Hauptstadt der DDR
"The Wall", 21. Juli 1990, Potsdamer Platz, Berlin
The Who, "Quadrophenia", 6. Mai 1997, Festhalle, Frankfurt
Pink Floyd, 13. August 1994, Hockenheimring
Yes, "Yessymphonic", 10. November 2001, Gewandhaus, Leipzig
'Auge in Auge' mit Tori Amos, 21. Juni 2005, Tempodrom Berlin
»Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum« (Friedrich Nietzsche)