Vom Überleben im Internetzeitalter:
Marketinghilfe für einen Musik-Marketing-Helfer
Zum Glück dürfen Rezensionen subjektiv sein und Partei ergreifen. Daher schenke ich Ihnen gleich reinen Wein ein: Ich betreibe Erste-Marketinghilfe zur Wiederbelebung eines Buches. Ich bin zwar nicht Marcel Reich-Ranicki, der, als er noch auf der Mattscheibe flimmerte, erfolgreich den literarischen Hau-den-Lukas bediente: Einmal ordentlich draufgehauen und schon schossen die Verkaufszahlen von bis dahin teilweise noch unscheinbar dahin dümpelnden Neuerscheinungen in die Höhe. Nein, diesen Status habe ich nicht. Aber ich muss es trotzdem versuchen. Denn das Buch, das ich Ihnen vorstelle, hat eine tragische Geschichte. 2007 zog www.musikverkaufen.de aus, den Büchermarkt zu erobern. Randvoll mit geballter Fachkompetenz über den digitalen Musikmarkt, bereit Musikern, Komponisten und Geschäftsgründern bei ihrem Weg durch den tiefen Dschungel der Bits und Byte zu helfen. Doch es hat sich scheinbar selbst darin verlaufen. Im Gestrüpp der digitalen Revolution, wo man vor allem mit gezielten Marketingschlägen vorwärts kommt, mit einer präzisen Verkaufsstrategie und einem untrüglichen Kompass für die richtige Vernetzung. Paradoxerweise scheint www.musikverkaufen.de aber inzwischen am Markt nicht mehr überleben zu können, obwohl es selbst der beste Survivaltrainer für das Internetzeitalter sein könnte. Angefangen hat alles so:
War in den Achtzigern ein Walkman noch was Besonderes, ist die darauf folgende Musikgeneration quasi mit den Stöpseln im Ohr geboren und wächst mit der Allverfügbarkeit von Charthits, ja selbst von subversiven Titeln auf, dank MP3-Player, I-Pod und Internet: Kein lästiges Mitschneiden auf Kassette mehr, kein Ärger darüber, dass der Radiomoderator über die coole Ramp quatscht, kein stundenlanges Warten darauf, ob der Lieblingstitel endlich gespielt wird - nein, ein gezielter Klick im Internet und schon ist der Download perfekt. Medienwissenschaftler sprechen von der digitalen Revolution. Und die wälzt nicht nur Hörgewohnheiten und technische Gegebenheiten um, sondern auch einiges auf Musiker-, Produzenten- und Vermarktungsseite. Wenn daher ein Buch mit dem Titel www.musikverkaufen.de erscheint, trifft es thematisch voll den Zeitgeist. Auch wenn es oldfashioned in Print daherkommt. Aber braucht man nicht trotz der unendlichen Weiten des World Wide Web immer noch die haptische Konkretisierung, die Materialisierung von Ideen und Information, um bei der virtuellen Überfülle bestehen zu können?
Das zumindest ist der Selbstanspruch des Buches. Knapp 300 Seiten Aufriss der digitalen Möglichkeiten von Musik, quasi ein orientierender Leitfaden durch den Netz-Wahnsinn. Das Handbuch fächert die Facetten der digitalen Revolution in einzelne Kapitel auf und stellt dem Leser jeweils Autoren aus der Praxis mit beeindruckenden Lebensläufen zur Seite. Das Schattenkabinett überzeugt: Heads of Music, Rechtsanwälte, Musikmanager, Komponisten, Unternehmensgründer, Onliner, Designer.... Und trotzdem setzt das Buch kein Fachwissen voraus. Es erklärt beispielsweise selbst solche Basics wie 'Metadaten' eines Musiktitels - bestehend aus Künstlernamen, Songtitel, Version, Dauer, Album und so fort. So banal das erst einmal klingen mag, so eine hohe Relevanz hat es. Denn zum einen darf ein Handbuch nichts voraussetzen, sonst würde es seinem Genre wohl kaum gerecht, und zum anderen steckt mehr Wichtigkeit in solchen Details als es manchem Leser vielleicht klar sein könnte: Entscheidend ist die Vollständigkeit, Genauigkeit und Sortierung der Metadaten. Das sorgt für Erfolg oder Misserfolg im Netz, unabhängig von der musikalischen Qualität des Titels. Funktioniert der Informationsfluss nicht, so funktioniert die Vermarktung nicht, das Produkt erreicht die Distributoren nicht und auch nicht den Kunden; dann könnte selbst die größte Komposition aller Zeiten einfach wieder vom Bildschirm verschwinden - oder eben auch ein gutes Buch. Ein gnadenloses System.
Aber - und hier löst www.musikverkaufen.de seinen Selbstanspruch als Leitfaden ein - der Leser wird dem nicht ungewarnt und ungewappnet ausgeliefert: Die Autoren verlabern sich nicht in Systembeschreibungen, sondern kommen sehr schnell und präzise zu möglichen Problemlösungen. Sie zeigen Fehlerquellen auf, die sie von ihrer Arbeit her kennen, garnieren sie mit Insiderinfos und zerlegen die empfohlene Verhaltensweise in einzelne Arbeitsschritte. Jedes Kapitel wird von einer Checkliste beendet, die die Tipps jeweils noch einmal zusammenfasst. Auch die Darstellung geht kaum übersichtlicher. Wegen dieser sprachlichen wie gestalterischen Effizienz ist es möglich, dass tatsächlich auf knapp 300 Seiten 20 Autoren die wichtigsten Bereiche der digitalen Musikwirtschaft umreißen. Der Leser kann gezielt einzelne Kapitel aussuchen, wenn ihn beispielsweise nur ein bestimmtes Geschäftsmodell interessiert wie Klingeltöne oder MySpace. Dafür muss er natürlich nicht das vorangegangene Kapitel zum Urheberrecht oder zu den Lizenzbedingungen gelesen haben. Das Buch ist so klug aufgebaut, dass niemand gezwungen ist, es von vorne bis hinten zu lesen, um davon profitieren zu können. Allerdings ist es wahrscheinlich eher für Leser eine Hilfe, die gerade in die digitale Musikwirtschaft einsteigen, als für Vollprofis, die sich nur gerne updaten wollen.
Insgesamt kein uninteressantes Buch, weil man trotz des Einführungs- und Handbuchcharakters, trotz aller Sachlichkeit und Knappheit das Faszinierende einer Gesellschaftsumwälzung durchschimmern spürt - und das könnte es auch zur Lektüre für Studenten der Kommunikations- und Medienwissenschaften qualifizieren: Das Internet hat übersichtliche Vertriebswege gesprengt, die Rechtslage verkompliziert, unendliche Konkurrenz geschaffen, neue technische Anforderungen etabliert - aber auf der anderen Seite hat es auch die Schwelle für Erfolg und Bekanntheit gesenkt. Ohne lästige Zwischenhändler oder abzockende Labels können Musiker auch direkt vermarkten, sofort berühmt und reich werden. Das ist die Chance des neuen Zeitalters, das rapide voranschreitet.
Mutig, in dem Zusammenhang ein Handbuch herauszubringen, das nicht als Historienschinken, sondern zur aktuellen Anwendung gedacht ist. Ein Printprodukt, das gesteht www.musikverkaufen.de selbst ein, kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Da haben die Marketingstrategen einmal scharf nachgedacht und den richtigen Buchtitel gefunden: www.musikverkaufen.de ist ein vernetzender Imperativ, eine Aufforderung, online weiterzulesen, bewirkt beim Leser Hoffnung auf aktuelle Ergänzungen. Und natürlich gibt es tatsächlich die gleichnamige Homepage. Verheißungsvoll posteten dort Autoren und Herausgeber, dass sie im Blog regelmäßig Updates zum Buch publizieren wollen. Das Versprechen ist von 2007. In der Zeitrechnung des Internet also: Steinzeit. Und was ist seither passiert? Drei Begrüßungseinträge von 2007 und dann - nichts. Immerhin kann man - zugegeben, nichts Neues, sondern eher pflichtschuldige Erfüllung von Online-Mindeststandards - auf einen Bestellbutton klicken.
Dann öffnet sich die Homepage des Mutterverlags des Unterverlags, bei dem das Buch erschienen ist und man erhält viel Information über - das neue Telefonbuch. Super. Dann muss man als User wohl die Büchersuche bemühen. Titeleingabe. Kein Treffer! Der Verlag führt den Titel nicht einmal mehr im Bestandskatalog. Okay. Irgendwo anders im Netz werd ich ja wohl das Buch noch herbekommen. Amazon: Ein Treffer - nicht verfügbar! Und keine einzige Kundenrezension. Google. Auch keine Hilfe. Zeitungsarchiv. Kein Treffer. Funktionierende PR-Arbeit sieht anders aus. Scheinbar beherzigt der Verlag die Tipps der eigenen Autoren nicht, die ja minutiös beschreiben, wie wichtig eine vernünftige Onlinevermarktung für den Verkauf ist. Aber dafür muss man Verständnis aufbringen. Schließlich existiert ja www.buchverkaufen.de noch nicht. Und selbst, wenn dieses Buch gerade geschrieben würde, käme es wahrscheinlich zu spät: Der Verlag überlegt, ob sich eine zweite Auflage von www.musikverkaufen.de überhaupt noch lohnt.
Empfehlung: Verlag anrufen und nerven!
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