Hollow Skai
Das alles und noch viel mehr - Rio Reiser
Die inoffizielle Biografie des Königs von Deutschland
Das alles und noch viel mehr - Rio Reiser
Rio Reiser, der charismatische Sänger und Kopf der Berliner Polit-Rockband Ton Steine Scherben und anschließender 'König von Deutschland', starb am 20.08.1996.
Nicht weiter verwunderlich, dass zum 10. Todestag ein biografischer Rückblick entstand, der von dem Hamburger Rock-Journalisten Hollow Skai im 'Heyne-Verlag' erschienen ist.
Im Vorfeld gab es um das Buch, das sich 'inoffizielle Biografie' nennt, heftigen Wirbel. Der Autor hatte als Recherche, neben seinen eigenen Aufzeichnungen aus dem langjährigen persönlichen Umgang, maßgebliche Personen aus dem Umfeld des Künstlers befragt. Nach Kenntnis des Manuskripts erhoben ein Teil dieser Interviewten schwere Vorwürfe gegen Hollow Skai. Dazu wurden auch Anwälte eingeschaltet - bis dato immer noch nichts weiter Verwunderliches - und, um einer befürchteten Verfügung gegen den Verkauf des gedruckten Buchs entgegen zu steuern, der unveränderte Text als Erstveröffentlichung zunächst als E-Buch im Internet angeboten - das war mal was Neues.
Am 15.05.2006 kam der Print mit einiger Verzögerung (und damit nach der verkaufsträchtigen Leipziger Buchmesse) heraus, die Wogen haben sich dadurch jedoch nicht geglättet. Nach meinen Informationen wurden keine Manuskriptänderungen vorgenommen.
Einiges ist davon auf der 'Rio Reiser Homepage' nachzulesen.
"Es geht um die Deutungshoheit, wer sich wie an Rio erinnern darf", sagt dazu Hollow Skai. "Und ich erinnere mich eben an Rio als eine gebrochene Person, als jemanden, der ein tragisches Leben hatte."
Es ist natürlich für den 'Normalo-Fan' (und damit meint der Rezensent sich) unmöglich, hier hinter die Kulissen zu blicken und den Wahrheitsgehalt herauszufiltern. Leider auch bei dem, was sonst mit Rio Reisers Vermächtnis und Erbe passiert, wozu mir nur das Wort 'traurig' einfällt.
Das Buch beginnt mit der Beerdigung in Fresenhagen, dem späteren 'Scherben'-Quartier in Nordfriesland und der nachvollziehbaren Betroffenheit bei seinen Freunden und Kollegen. Und da schildert der Autor in seinem "Intro" auch sein persönlich Erlebtes. Der Großteil der restlichen 215 Text-Seiten besteht aus mehr oder minder aneinander gereihten Zitaten der diversen Quellen.
Hollow Skai war zweifelsohne sehr fleißig, was auch sein über 50 Seiten starker, vorbildlicher Anhang mit Werkverzeichnis, Register, Nachweisen, Quellenangaben, Nachrufen, Danksagung usw. beweist. Informativ und mit zahlreichen Fotos gut illustriert ist die Bio allemal. Kein Zweifel, der Autor war dabei und deshalb sollte der Leser ihm auch ein gewisses Einschätzungsvermögen zutrauen, zumal er lt. Klappentext nicht nur Germanistik und Politik studierte (was zwar für sich nichts heißt), aber auch als Gründer des Punk Labels 'No Fun Records', Chefredakteur des mehrfach zitierten Stadtmags 'Schädelspalter' aus Hannover und Kulturredakteur beim 'Stern' war, was auf Genrekenntnisse und eine gewisse Qualität schließen lässt.
Nun, ob das erlangte Recherchenmaterial nicht ausreichend war und möglicherweise tendenziös verwendet wurde, mag dahingestellt sein. Offensichtlich ist es jedenfalls nicht.
Skai beschreibt den Weg Reisers von der Kindheit weg und zeichnet dabei ein interessantes Bild der Berliner Hausbesetzer- und Politszene, in die die 'Scherben' eingebunden waren. Der Leser erfährt von der zeitweisen Nähe der Band zur 'RAF' (allein schon deshalb, weil Holger Meins der Vermieter in Berlin war), den regelmäßigen Besuchen der Kripo und anderer Ordnungshüter an den jeweiligen Domizilen, der Managerrolle von Claudia Roth, natürlich von Reisers Schwulsein, was im Detail vor allem für Nicht-Nahestehende interessant, aber nicht wirklich neu ist.
Dass er zu Beginn seiner Solokarriere die Anerkennung bei den DDR-Fans fand, für die er in Ost-Berlin überraschend auftreten durfte, während er im Westen eher für seinen Deal mit dem damaligen Major 'CBS' kritisiert wurde, mag dagegen allgemein so nicht bekannt gewesen sein.
Nachvollziehbar sind auch die geschilderten Schwierigkeiten in der neuen Rolle, als er gleich mit dem ersten Soloalbum "Rio I" und dem "König von Deutschland" in die Charts kam und dafür vor allem vom linken Politlager angefeindet wurde. Der Wandel vom Klassenkämpfer, der mit den 'Scherben' zwar viel Ruhm, aber letztendlich nur Schulden aufgrund der eigenen Unorganisiertheit und unfähigem Management einfuhr, zu dem zunächst erfolgreichen Künstler und aktivem Neu-'PDS'ler, machte nicht nur seinen alten Fans zu schaffen. Als er sich für die kommerzielle Karriere entschied (die erstmal die 'Scherben'-Altlasten tilgte), empfand er das auch als künstlerische Hurerei, die sich auf Dauer nicht auszahlte. Dazu kamen Probleme mit seinen 'Beziehungen', eine schwere Krankheit, die als Hepatitis-Infektion dargestellt wird und wohl auch massive Alkohol- und Drogenprobleme. Offen bleibt, was letztlich die Todesursache war.
Gerade aber diese Umstände kann Skai wenig erhellen und u.a. hier setzen (nachvollziehbar) die Widersprüche der Kritiker an (die, soweit es die den Nachlass verwaltende Familie und seine Freunde betrifft, verständlicherweise ein positiveres Bild aufrecht erhalten wollen). Das Buch wirkt vor allem gegen Ende wie unter Zeitdruck fertig gestellt (oder zusammengekürzt?), es werden obskure und okkulte Momente um den Tod Reisers ins Spiel gebracht, was bei dem ansonsten doch um Sachlichkeit bemühten Schreibstil mehr als merkwürdig wirkt. Des Öfteren unterlaufen Skai Plattitüden, es gibt einige Flüchtigkeitsfehler, Ungenauigkeiten und sogar Beiträge zur Legendenbildung, gegen die der Autor eigentlich anschreiben wollte.
Was mich an dem Buch am meisten stört, ist der holprige Stil der 'Zitatensammlung', die keinen rechten Lesefluss aufkommen lässt. Gerade von einem ehemaligen 'Stern'-Kulturredakteur wäre ein gängiger Schreibstil schon zu erwarten gewesen. Dass Rock-Biografien durchaus fesseln können, wissen wir alle.
Wie gesagt, über den Wahrheitsgehalt und die Interpretationsaussagen des Buchs können nur wirklich die Menschen aus der Umgebung Rio Reisers urteilen. Da mag auch das zutreffen, was Lutz Kerschkowski, der Reiser-Gitarrist und -Archivar gesagt hat: "Wenn jemand beerdigt wird, beerdigt jeder, der um den Sarg steht, einen anderen."
Meiner Meinung nach wurde zumindest aber die Chance verpasst, dem wohl besten deutschen Rock-Dichter zu seinem zehnten Todestag sprachlich etwas Angemessenes aufs Grab zu legen. Und der Streit um das Buch schadet sicher weder ihm, noch den jetzigen Akteuren.
Publicity sells.


Hollow Skai - Das alles und noch viel mehr - Rio Reiser
Die inoffizielle Biografie des Königs von Deutschland
287 Seiten, 39 Fotos, Heyne, München 2006, 1. Auflage, ISBN: 3-453-12038-8
Foto: Hollow Skai / © Gerd Heidorn
Nobert Neugebauer, 11.06.2006