Anyone's Daughter / Calw Live
Calw Live Spielzeit: 89:18
Medium: Do-CD
Label: Tempus Fugit, 2011
Stil: Prog, Kraut

Review vom 24.06.2011


Michael Knoppik
Als der Progressive Rock 1979 fast vollständig von zwei entgegengesetzten Bewegungen, nämlich der Punk- sowie der Disco-Welle ausgelöscht wurde, existierte mit Anyone's Daughter eine deutsche Truppe, die die Flagge des Progressive Rock hochhielt und einige schöne Alben einspielte. 1986 löste sich die Band auf, erfreute sich aber im Jahr 2000 ihrer Wiederbelebung mit den Ur-Mitgliedern Uwe Karpa und Matthias Ulmer.
Die beinahe spurlos an mir vorbeigegangene Veröffentlichung "Cawl Live" stellt eine Aufnahme vom Open Air auf dem Marktplatz der baden-würtembergischen Kleinstadt Calw am 03.08.2002 dar. In der Geburtsstadt Hermann Hesses traten dort anlässlich seines 125. Geburtstags mehrere Künstler auf. Darunter die deutsche Progressive Rock-Formation Anyone's Daughter, zusammen mit dem berühmten deutschen Musiker und Lyriker Heinz Rudolf Kunze.
Kunze tritt dabei in folgenden Stücken in Erscheinung: "Buchstaben", Piktors Verwandlungen (Lesungen), sowie "Piktors Verwandlungen" und "Imagine" (Gesang). Dabei handelt es sich bei "Piktors Verwandlungen" um das erneute Einspielen des ursprünglich bereits live eingespielten, gleichnamigen Albums. Dieses ist das Märchen von Hermann Hesse. Darin findet ein Junge namens Piktor einen Stein, der ihn in einen Baum verwandelt und ihm damit einen Wunsch erfüllt.
Zusätzlich besteht das Livealbum aus Tracks der Alben "Anyone's Daughter" von 1980 und "Danger World" von 2001. Angereichert um die Ansagen des von Kunze vorgetragenen Gedichtes "Buchstaben", sowie eine in Deutsch/Englisch gemischte Version des Lennon-Klassikers "Imagine". Die Ansagen eines Festivalorganisatoren sowie die der Band selbst sind seltsamerweise komplett in Englisch. Dagegen trägt Heinz Rudolf Kunze seinen Teil auf Deutsch vor.
Die Platte beginnt mit recht flotten Moogs im Titel "Swedish Nights". Ein zwar symphonischer, aber dennoch arg simpel geratener Song. Das ruhige "Between The Rooms" startet rein instrumental mit Gitarrenklängen, später kommen Moogs und Schlagzeug dazu. Nach anderthalb Minuten setzt der Gesang ein - ein melancholischer Titel. Am Ende folgt eine Ansage, die Heinz Rudolf Kunze ankündigt, der erst einmal das angesprochene Gedicht in gekonnter Manier vorträgt. Seine Stimme und Art der Betonung macht solch eine schlichte Lesung zu etwas Besonderem.
Es folgt das Highlight, die Geschichte um Piktor. Im Gegensatz zum originalen Album hat man hier die einzelnen Stücke nicht aufgesplittet, sondern einfach alles in einem 36-Minuten-Track verpackt. Das ganze Ding besteht aus Vorspielen, Erzählungen und Musikstücken zwischen einer halben und sieben Minuten Länge. Alleine diese Aufteilung sorgt für sehr viel Atmosphäre. Doch auch die Erzählungen mit diesen untermalenden Klängen im Hintergrund, sowie die meist instrumentalen Titel, die in ihren Attributen zwischen rockig, symphonisch, improvisiert, melancholisch, romantisch, spannend und hymnisch wechseln, sorgen für Gänsehaut. Dabei zeigt die Band, dass sie live Stimmungen sehr gut transportieren und einfach professionell unterhalten kann.
Melodieführende Instrumente sind die E-Gitarre und die Moog-Keyboards, die aber auch als Hintergrunduntermalung fungieren. Bass und Drums bilden logischerweise das rhythmische Fundament. Das lange Stück schafft es, den Hörer die ganze Spielzeit über zu fesseln. Das letzte Teilstück "Der Doppelstern" hat den sehr hymnenhaften Charakter. Der mehrstimmige Gesang trällert diese Zeilen:
»Nun sitzt du da und hörst uns zu, und Piktors Stern steht über dir
Ein Zeichen, dass du uns verstehst, du nimmst ihn mit auf deinen Weg
Ein Stückchen Raum, ein bisschen Zeit, solange er noch bei dir bleibt
Deine Gedanken weiter treibt, sei er dein Ziel in Dunkelheit
Sei nicht wie der, den man verglich, den man den "alten Baum" genannt
Halt' ein Kristall in deiner Hand - dein Leben heißt: Verwandle dich.«

Ein tolles Finale!
Es folgt die zweite Ansage und das Stück "Nina" aus "Danger World". Das Lied hat was Rockiges, aber auch etwas Balladeskes. Auch hier kommt der mehrstimmige Gesang gut zur Geltung, ebenso wie im folgenden "Danger World", dem Titelstück des 2001er-Albums. Hier wummern Gitarre und Bass schon ziemlich. Der Gesang wirkt auch etwas heroisch, so dass vorübergehend überraschenderweise einige Ähnlichkeiten zum Metal vorherrschen. Fast eine Mischung aus Asia und Blind Guardian klingt durch. Das waren dann zwei Stücke, die das Album aufwerten. "I'll Never Walk That Road Again" könnte auch glatt von Asias "Aura" abstammen. Ziemlich nah an Melodic Rock-Halbballaden bewegt sich das Stück.
"Hellios" beginnt mit seinen flirrenden Moogs und krummen Rhythmen sehr proggy. Nach etwas hymnischem Gesang folgen wieder für den Prog-Rocker rhymtische Leckerbissen, bei denen Peter Krumpf am Schlagzeug glänzen darf. "Wheel Of Fortune" hat zwar nichts mit dem Ace Of Base-Song zu tun, ist aber dennoch poppig geraten. Der Text ist auch nicht gerade erste Sahne.
"Moria" spielt entweder auf den Tempelberg in Jerusalem, oder auf die Nymphe in der griechischen Mythologie an. Vielleicht sogar auf den Ort aus "Herr der Ringe". Passend zu allen drei Varianten ist das Stück ein ziemlich epischer und flotter Melodic-Rocker geworden. Sowas kommt live natürlich absolut genial rüber.
Die Dreingabe der Coverversion von "Imagine" wirkt arg kitschig, zumal da noch in Deutsch gesungen wird. Selbst der Gesang eines Mannes wie Heinz Rudolf Kunze kann solch ein sinnloses Vorhaben nicht retten. Damit fällt das Album zum Schluss deutlich ab. Sehr schade, dass am Ende auf sowas ausgelutschtes gesetzt wurde.
Wer "Piktor's Verwandlungen" bereits besitzt, braucht dieses Album nicht unbedingt. Wer es jedoch sehr gerne mag und in neuer Frische hören will, kann ruhig zugreifen. Die nennenswerten Unterschiede des 'neuen' Tracks zum ursprünglichen Album sind folgende:
1. André Carswell ersetzt Harald Bareth am Gesang. Macht seinen Job gut und der Unterschied fällt kaum auf.
2. Heinz Rudolf Kunze bereichert das Stück durch die Erzählungen und seinen Gesang.

Ansonsten gilt, dass "Swedish Nights" etwas schwach, aber als Einstieg ganz gut geeignet ist und "Between The Rooms" und "I'll Never Walk That Road Again" okay sind. "Nina", Danger World", "Hellios" und "Moria" stehen klar auf der Haben-Seite, während "Wheel Of Fortune" und insbesondere "Imagine" die Schattenseiten darstellen. Insgesamt aber ein gelungenes Album, das gute Rockmusik gehobenen Niveaus bietet.
7 von 10 RockTimes-Uhren
Line-up:
Uwe Karpa (guitars)
André Carswell (vocals)
Peter Krumpf (drums)
Raoul Walton (bass)
Matthias Ulmer (keyboards, vocals)
Heinz Rudolf Kunze (vocals)
Tracklist
CD 1:
01:Ansage I (0:19)
02:Swedish Nights (4:48)
03:Between The Rooms (5:55)
04:Buchstaben (2:16)
05:Piktors Verwandlungen (36:17)
CD 2:
01:Ansage II (0:59)
02:Nina (3:45)
03:Danger World (6:12)
04:I'll Never Walk That Road Again (5:38)
05:Helios (3:46)
06:Wheel Of Fortune (5:59)
07:Moria (6:01)
08:Imagine (7:33)
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