Wen kümmert denn noch 'sein dumm Geschwätz' von gestern?? Einmal quer durch die Nachrichtensender gezappt und spätestens danach ist die Antwort klar: Das juckt heute noch nicht mal mehr die sprichwörtliche Sau! So darf ich also beruhigt loslegen...
Was ist unsereins damals - man schrieb das Jahr 1983 - im heiligen, jugendlichen Ernst über Anyone's Daughters "Neue Sterne" hergefallen. »Plastikmucke« und »Sargnagel« zählten noch zu den harmloseren Reaktionen. Das kommt eben dabei heraus, wenn jemand aus der Dreikäsehoch-Perspektive Musik zu 'analysieren' glaubt... Wie so oft klingt drei Jahrzehnte später vieles plötzlich so ganz anders! Aus der Retrospektive ist "Neue Sterne" die konsequente Fortsetzung von "In Blau" und eine rundum gelungene obendrein.
Bemerkenswertes Detail: Seinerzeit wurde die A-Seite der LP ausnahmslos aus Songs zusammengestellt, die - sicherlich auch dem Zeitgeist geschuldet - noch griffiger und kompakter als "In Blau" ausfielen. Mit der B-Seite dagegen bezog man sich wieder mehr auf den Progressive Rock der Anfangstage, sprich: die ersten beiden Alben.
Beginnen wir mit dem 'puren' Block: Nach den Songs eins bis sechs ist mir schlagartig sonnenklar, bei wem sich die schwäbischen Betroffenheits-Rocker Pur jahrelang ziemlich ungeniert bedient hatten. Musikalisch waren die ja anfangs gar nicht so schlecht, wenn nur nicht diese textlichen Plattitüden und das Drücken auf jede im Weg befindliche Tränendrüse gewesen wäre... Lange bevor also die Bietigheim-Bissinger ihren ersten Hit landen konnten, hatte Anyone's Daughter diese Songs bereits vorweg genommen - allerdings mit richtig guten, teilweise gesellschaftskritischen Texten! Paradebeispiele für eingängigen und dennoch anspruchsvollen Rock sind die ersten beiden Songs: "Der Plan", bei dem sogar ein 'verstaubtes' Mellotron zum Einsatz kommt, und "Neue Sterne", das munter nach vorne abrockt. Der Refrain »Neue Sterne sind auf 45« ist übrigens eine sehr schöne, leicht bissige Anspielung auf DIE Single-Serie der Neuen Deutschen Welle, 'Stars on 45':
»Du siehst lecker aus
Doch du machst dir gar nichts draus
Mein Coiffeur kollabiert fast
Muß mich genier'n
Dich in diesen Klamotten vorzuführ'n
Man merkt, dass du's noch nicht kapiert hast
Die Moderne arrangiert sich
Neue Sterne sind auf 45«
Das sparsam instrumentierte, stille "In zerbrochenem Glas" setzt sich eindrucksvoll mit den Schuldvorwürfen eines Autofahrers, der einen Unfall verschuldet hat, auseinander. Die Einleitung zu "Puppenspiel" ist kollagenhaft aus inhaltsleeren Politikerfloskeln der damaligen Zeit zusammengestellt. Der Song basiert weitgehend auf einem einzigen Thema, das allerdings sehr facettenreich variiert wird. "Viel zuviel" ist musikalisch derart genial, dass man es fast den zeitgleich abhebenden Asia hätte unterjubeln können. [Nebenbei bemerkt: Die fand man natürlich klasse, während man im folgenden Satz über "Neue Sterne" abzulästern pflegte.]
Widmen wir uns nun dem 'progressiven' Block. "Konsequenzen" ist eine typische Ulmer-Nummer. Schicht für Schicht trägt der Keyboarder mittels Synthesizern, Hammond und Sequenzern auf das Werk, über das zur Krönung dann noch ein infernalisches Mini Moog-Solo gezaubert wird. Als weiteres Sahnehäubchen der Extraklasse darf der epische Longtrack "Illja Illia Lela" bezeichnet werden - vielleicht sogar das stärkste Stück auf "Neue Sterne", weil man diese Art von Prog Rock blind Anyone's Daughter zuschreiben kann. Typischer geht's kaum...
Bei "Café Einstein" darf Uwe Kappa seine Künste auf der Flamencogitarre demonstrieren - leider viel zu kurz! "Reprise" beschließt den 'offiziellen' Teil, erneut rein instrumental. Hier schweift Ulmer - wie schon auf früheren Alben - mal wieder in jazzige Gefilde ab.
Als 'Zugabe' hat man wieder drei Live-Takes in ordentlicher Tonqualität dieser remasterten CD beigefügt. Besonders schön sticht dabei "Viel zuviel" hervor, das durch ausgiebige Soli auf fast doppelte Länge aufgebrezelt wurde.
"Neue Sterne" markierte das letzte Studioalbum des klassischen Line-up Anyone's Daughters. Matthias Ulmer und Uwe Kappa mussten erstmal ihren Zivildienst absolvieren und der exquisite Sänger und damit das Herzstück der Band, Harald Bareth, begann eine überaus erfolgreiche medizinische Laufbahn.
Lasst euch von niemandem etwas vom Pferd erzählen. "Neue Sterne" ist wesentlich besser als sein Ruf. Natürlich wird "In Blau" nicht ganz erreicht, aber diese Wiederentdeckung hat richtig Spaß gemacht...
Line-up:
Uwe Karpa (elektrische und akustische Gitarren)
Matthias Ulmer (Tasteninstrumente, Gesang)
Peter Schmidt (Schlagzeug und Perkussion)
Harald Bareth (Gesang, Bass)
Tracklist |
01:Der Plan (...und das Eis zerschlagen) [3:59]
02:Neue Sterne (Des Poppers unglückliche Liebe) [4:12]
03:In zerbrochenem Glas [3:16]
04:Wieder weiter [4:28]
05:Das Puppenspiel [4:37]
06:Viel zuviel [3:58]
07:Konsequenzen [4:00]
08:Illja Illia Lela [7:02]
09:Café Einstein [0:56]
10:Reprise [5:01]
Bonustracks:
11:Konsequenzen (live in Heidelberg, 1982) [5:01]
12:Reprise (live in Eberbach, 1983) [4:47]
13:Viel zuviel (live in Eberbach, 1983) [6:26]
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Externe Links:
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