Ayreon / Actual Fantasy Revisited
Actual Fantasy Revisited
Substitutiv oder komplementär?
Unweigerlich stellt sich diese Frage bei "Revisited"-CDs, "Re-Remastered"-CDs und allen "Neuauflagen" des gleichen Mediums. Skeptisch war ich nicht, als ich diese CD bestellte. Schließlich, und das dürfen ruhig alle wissen, war ich es, der bekannte: "Nach solcher Musik habe ich 15 Jahre lang verzweifelt gesucht."
Das war, als ich zum ersten mal "Dream Sequencer" und "Actual Fantasy" von Ayreon gehört hatte. Aber die Spannung war da, als Arjen Lucassen ankündigte, sich "Actual Fantasy" noch einmal vornehmen zu wollen.
"Actual Fantasy" war die zweite Ayreon-CD und verkaufte sich von allen Veröffentlichungen unter diesem Trademark am schlechtesten. Warum das so ist, versuchte auch Lucassen zu ergründen. In Interviews und im Booklet der 2004'er CD lässt er sich zu einigen Spekulationen hinreißen:
Im Gegensatz zur ersten Scheibe "The Final Experiment" ist "Actual Fantasy" keine Rock- oder Metal Oper.
Der Gesang wurde mehr als sonst als eine Art Instrument benutzt, unter Einsatz multipler Harmonien.
Es wurde ursprünglich kein Schlagzeug eingesetzt, sondern eine Maschine bemüht.
Um also "Actual Fantasy" in seinem Sinne aufzupeppen hat Lucassen aus der virtuellen Band eine reale gemacht. Die wuchtigen Drums wurden von Ed Warby eingezimmert. Peter Vink brilliert am Tieftoner und Ewa Albering haucht den vormals synthetischen Flötenklängen nun echtes Leben ein. Auch die Gitarrenspuren wurden von Lucassen neu eingezwirbelt.
Die Musik klingt im neuen Gewand anders. Sie klingt schwerer und beherzter. Die "neuen" Menschen stellen den Unterschied zur Maschine glasklar heraus. Die winzigen Abweichungen, die nicht bewusst wahrgenommen werden, aber unzweifelhaft da sind, lassen "Actual Fantasy" voller erscheinen. Die "menschliche" Komponente und der neue Mix machen das Album wärmer und gleichzeitig ausdrucksstärker.
Einzelne Passagen, sehr wohl von der 1996'er Version bekannt, kommen plötzlich härter und kompromissloser rüber. Viele neue Details sind bei jedem Durchgang zu entdecken.
Zu Beginn des Albums fragt die Kinderstimme diesmal die Eröffnungsworte "Actual Fantasy?" anstatt diese beiden Wörter mit Nachdruck festzustellen, wie auf dem Original. Ob sich Arjen doch nicht ganz so sicher war, ob die Neuinterpretation des Ayreon- Klassikers beim kritischen Rock-Publikum ankommen würde?
Arjen Lucassen schreibt im Booklet, dass "Actual Fantasy" eine zweite Chance verdient hat. Recht hat er damit! Trotzdem ist es genau das, was ich nicht verstehe. Schon die 1996' er Version war eine geniale Scheibe. Ja, sie hat eine zweite Chance verdient, aber sie hätte sie niemals benötigen müssen.
Substitutiv oder komplementär? Zu der CD gibt es in der mir vorliegenden Version eine DVD als Dreingabe. Diese enthält den kompletten 5.1-Mix der 2004 Version von "Actual Fantasy". Was für ein Klangerlebnis! Bin mir immer noch nicht sicher, ob Audio 5.1-Mixe wirklich von der Welt gebraucht werden, aber dieser hier ist überwältigend. Wer den direkten Vergleich zum Original sucht, muss nicht zum Plattenregal laufen. Auch die 1996 Version ist vollständig auf der DVD digitalisiert. Zu beiden Versionen werden in Echtzeit die Texte auf den Bildschirm projiziert. Des Weiteren ist der Video Clip zu "The Stranger From Within'" aus '96 zu bestaunen - wahlweise in 5.1 oder 2.0.
Hinter dem Menuepunkt "Featurette: Recording Drums, Bass and Guitar 2004" verbergen sich visuelle Impressionen und Albernheiten aus den Aufnahmesessions. Arjen erzählt frei heraus wie, warum, was, wer und wann. Cool und sehr interessant. Außerdem ist er dabei zu bewundern, wie er die Riffgewitter in die Maschine donnert.
Das Booklet ist überaus informativ. Bandfotos, Credits und Songtexte sind ebenso vorhanden wie Arjen Lucassens Assoziationen und Gedanken zu jedem einzelnen Song.
Substitutiv oder komplementär?
Für mich jedenfalls steht fest:
Die zweite Auflage der zweiten Ayreon-CD ist meine zweite, gleichberechtigte zweite Lieblingsscheibe von Ayreon. Die Versionen von 1996 und 2004 ergänzen sich perfekt.
Deswegen fehlen diesmal die Anspieltipps. Es gibt nämlich keine. Die ganze CD ist ein einziger Anspieltipp. Und die DVD auch.
Dazu kommt noch, dass der zusätzliche Song "The Dawn Of Man" aus den ursprüngliche 53:24 Minuten Spielzeit im Jahr 2004 saubere 62:04 macht.
Die stilistische Einordnung des Werkes ist nicht ganz so einfach. In Venlo gibts einen Plattenladen, der Ayreon unter "Progressiv" führt. Gesichtet wurde Arjen Lucassens Material schon unter "Heavy Metal", "Rock von A-Z" und "Pop-Rock". Bezeichnet wurden seine Epen auch als "Space-Metal", "Rock-Opera" und "Symphonic Hard Rock". Die Rocktimes hält sich da raus. Entscheidet selbst!
Aber eines wagen wir zu prophezeien:
Nach einem Abend intensiver Beschäftigung mit "Actual Fantasy" werdet ihr Arjen Lucassen bald auch einen "Meister" nennen.
Spielzeit CD: 62:04, Medium: CD/DVD, InsideOut Music, 2004
1:Actual Fantasy, 2:Abbey Of Synn, 3:The Stranger From Within, 4:Computer Eyes, 5:Beyond The Last Horizon, 6:Farside Of The World, 7:Back On Planet Earth, 8:Forevermore, 9:The Dawn Of Man
Olli "Wahn" Wirtz, 19.12.2004