"Look At Me…I'm Alive!"
Die Erinnerung an einen schweren und mysteriösen Autounfall sind alles, was der Hauptcharakter dieses gigantischen Konzeptalbums hat, als er im Krankenhaus zu sich kommt. Er liegt weiterhin im Koma und kämpft über die gesamte Spielzeit mit dem Tod, obwohl er körperlich gesund ist. Er kann nicht zurückkehren, bevor er nicht ein paar Antworten findet…aber er ist nicht allein, denn Stimmen sprechen zu ihm, die ihm, jede auf ihre Weise, Hinweise geben, ihn überzeugen und beeinflussen wollen. Die Stimmen sind seine Emotionen, und für ihn sind sie real, und mehr als nur ein Traum.
Eine der besten Neuerscheinungen 2004 kommt von Arjen Anthony 'Ayreon' Lucassen. Kein Fantasy oder SciFi-Album sollte es diesmal sein, sondern ein regelrechter Psycho-Trip, in dem - technisch gesehen - rein gar nichts passiert, außer der wilden Achterbahnfahrt durch Erinnerungen, Fragen und Antworten.
Vier Jahre nach dem letzten Ayreon war es nach einigen anderen Projekten wieder Zeit, sich mit einer illustren Runde von Sängern zu umgeben, und auch diesmal hat Multi-Instrumentalist Lucassen (der so stark mit Ayreon in Verbindung steht, dass einige seiner Gastsänger tatsächlich zugaben, bis dato gedacht zu haben, sein Vorname wäre nicht Arjen, sondern Ayreon) wieder exzellente Wahlen getroffen. 'Me', der Mann im Koma, wird von einem bestens aufgelegten James LaBrie ( Dream Theater) porträtiert, der jede Kritik, die seit jeher an seiner Stimme nörgelt, zerschmettert. Er wirkt verängstigt, verwirrt, voller Schmerz, und dann wieder voll Hoffnung.
Würde man nicht wissen, welche Emotionen dargestellt werden, man könnte sie auch nur am puren Tonfall erkennen.
Devon Graves ( Deadsoul Tribe, Psychotic Waltz) als 'Agony', Eric Clayton ( Saviour Machine) als 'Reason', Mikael Akerfeldt ( Opeth) als 'Fear' oder Devin Townsend als 'Rage', um nur einige zu nennen, liefern, allein oder in den riesigen Chören, eine absolut glaubwürdige und anschauliche Performance. Die Abkehr vom 'klassischen' Ayreon-Sound (sollte es ihn denn jemals gegeben haben) wird am deutlichsten im augenzwinkernden "Day Sixteen: Loser", in der Mike Baker ( Shadow Gallery) als 'Father' einen klasse Alice Cooper-Verschnitt gibt.
Auf diesem Epos gibt es derartig viel zu erleben, dass man anfangs regelrecht überfordert ist. Es gibt unzählige Facetten und Richtungen, von Jazz über Klassik-Passagen und Folk bis (natürlich) zum Progressive Metal. Selbst mir als eingefleischtem Prog-Fan klappte die Kinnlade runter, als diese Flut von Emotionen auf mich einprasselte - ohne die Songs allerdings zu überladen wirken zu lassen.
Diese Metal-Oper hebt sich mit Leichtigkeit nicht nur von den bisherigen Ayreon-Produktionen ab - sie steigt eine Stufe höher.
Unzählige Gastmusiker, Violinisten, Cellisten, Flötisten aller Art, Didgeridoo-isten etc., haben nicht nur die vorgeschrieben Noten gespielt, sondern auch ihren eigenen kreativen Input geleistet.
Ed Warby an den Drums ist sogar noch besser als sonst, teilweise vier oder mehr Rhythmen zur selben Zeit spielend. Lucassen spielt - wie immer - Gitarre, Bass und Keyboards, und es gibt eine weitere Premiere: Er singt, nachdem viele gewollte Engagements (darunter auch Tony Martin [ex- Black Sabbath]) geplatzt waren, kurzerhand selbst die Rolle des 'Best Friend', und das sogar überraschend gut.
Zusätzliche Parts und Soli werden von vier verschiedenen Keyboardern gespielt, darunter auch Ken Hensley (Uriah Heep). …Wollte man zu jedem Zeitpunkt genau wissen, wer gerade spielt und singt, käme man aus dem Nachschlagen gar nicht mehr raus.
Sucht man krampfhaft nach einem negativen Aspekt, findet man ihn unter Umständen darin, dass zu viele Songs nicht in der Lage sind, eine bestimmte Atmosphäre zu halten, was natürlich durchaus gewollt und es zu mögen jedem selbst überlassen ist.
Mehrere Songs, wie "Day Three: Pain", starten mit einer wunderschönen, melancholischen Stimmung und beispielsweise dem samtweichen Gesang von Devon Graves, nur um dann in die für dieses Doppelalbum sehr typischen riesigen Arrangements mit Unmengen von Keyboards und Stimmen zu verfallen.
Nichtsdestoweniger ist dieses Werk das beste Ayreon-Album, das man mehr als nur 'mal gehört haben' muss, denn es braucht definitiv mehr als einen Durchlauf. Am Ende wird, vollkommen überraschend, sogar eine Verbindung zum "Dream Sequencer"-Konzept hergestellt.
Nicht nur für Progressive Metal-Fans ein Pflichtkauf von einem der größten Masterminds unserer Zeit.
Spielzeit 102:08, Medium: Doppel-CD, InsideOut Music, 2004
CD1: 1:Day One: Vigil 2:Day Two: Isolation 3:Day Three: Pain 4:Day Four: Mystery 5:Day Five: Voices 6:Day Six: Childhood 7:Day Seven: Hope 8:Day Eight: School 9:Day Nine: Playground 10:Day Ten: Memories 11:Day Eleven: Love
CD2: 12:Day Twelve: Trauma 13:Day Thirteen: Sign 14:Day Fourteen: Pride 15:Day Fifteen: Betrayal 16:Day Sixteen: Loser 17:Day Seventeen: Accident? 18:Day Eighteen: Realization 19:Day Nineteen: Disclosure 20:Day Twenty: Confrontation
Christoph Segebard, 26.07.2005
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