Camel / Mirage
Mirage Spielzeit: 69:00
Medium: CD
Label: Universal, 1974/2002
Stil: Prog Rock


Review vom 25.02.2000


Jürgen Hauß
Als ich vor einiger Zeit das Angebot von der RockTimes-Redaktion bekam, einen Review zum Album Decadent Light von Evolve IV zu schreiben, 'musste' ich mich seit langem einmal wieder mit Prog Rock beschäftigen, einem musikalischen Stil, den ich zugegebenermaßen über viele Jahre hinweg vernachlässigt hatte - völlig zu Unrecht, denn diese Musikrichtung hat eine Vielzahl von hervorragenden Bands und demzufolge auch tollen Scheiben hervorgebracht, deren Klasse sich möglicherweise nicht beim ersten Hören, jedenfalls aber dann herausstellt, wenn man sich mit der Musik ein wenig beschäftigt. Wie ich seinerzeit geschrieben habe, erinnerte mich die Musik von Evolve IV sehr an frühe Aufnahmen der britischen Prog-Rocker Camel. Dies veranlasste mich, in der Vergangenheit zu graben.
Was lag daher zunächst näher als eine Durchsicht der Artikel, die auf RockTimes erschienen sind? Und siehe da: Wenigstens einen Artikel, einen Review meines 'Brother by name and probably in mind' Jürgen Bauerochse, fand ich zu Camel und ein Album gleichen Namens. Ein Album, das außer dem Namen "Camel" keinen weiteren Titel hatte, glaubte ich zu kennen bzw. aus Vorzeiten sogar in Besitz zu haben. Doch das auf RockTimes abgebildete Albumcover irritierte mich genauso wie die Beschreibung; nichts kam mir wirklich bekannt vor. Das "Camel"-Album, welches ich kannte, hatte ein Cover, das der Verpackung der gleichnamigen Zigaretten-Marke entsprach. Und zugegebenermaßen: Dieses Cover hatte mich in den siebziger Jahren als Raucher dieser Marke überhaupt erst auf die Schallplatte aufmerksam gemacht!
Mirage USÜbrigens: Während das Album in Amerika aufgrund entsprechender Vorbehalte des Zigarettenherstellers nicht mit dem Kamel auf dem Cover erscheinen durfte (das US-Cover stellt einen Art Dinosaurier o.ä. dar), erreichte das Management von Camel für die restlichen Länder, in denen das Album veröffentlicht wurde, eine Lizenzvereinbarung mit dem Tabak-Multi, die zu einem großzügigen Sponsoring und damit zu gegenseitigen Vorteilen führte.
Jedenfalls war mein Interesse wieder geweckt, und deshalb stöberte ich in dem Plattenladen meines Vertrauens, Mr. Music in Bonn, nach Camel-Scheiben. Dort entdeckte ich nicht nur das von Jürgen Bauerochse beschriebene Erstlingswerk, sondern auch eine CD mit dem Kamel auf dem Cover. Irritiert war ich, dass dort direkt unter dem Bandnamen Camel noch ein Titel "Mirage" aufgeführt war, sowie davon, dass die CD nur fünf reguläre Tracks sowie vier Bonus-Tracks enthielt. War nicht meine seinerzeitige LP tatsächlich eine Doppel-LP und ohne Titel gewesen? Dennoch kaufte ich die Scheibe, um mich mit der Musik von Camel nach so vielen Jahren wieder auseinander zu setzen. Zu Hause stöberte ich allerdings zusätzlich in den Kisten im Keller, in denen ich alte LPs aufbewahre, und tatsächlich fand ich 'meine Camel'. Es handelte sich um eine seinerzeitige spanische Pressung, die in der Hülle der LP "Mirage" (ohne diesen Titel vorne auf dem Cover aufzuführen) tatsächlich zwei LPs beherbergte, nämlich besagte "Mirage" sowie den Nachfolger "The Snow Goose". Also hatte mich mein Gedächtnis doch nicht so ganz getäuscht.
Nun aber die 'neue' CD in den Player hinein geschoben, und schon fühle ich mich um 35 Jahre (!) zurückversetzt. Tatsächlich ist "Mirage" bereits so alt, klingt aber dafür noch erfrischend jung. Zugegeben: Die Musik von Camel hört man nicht, um unmittelbar begeistert zu sein. Man muss die Tracks einige Male hören, bevor die Musik richtig wirkt: Alle diese langen und delikat arrangierten Instrumentalpassagen brennen sich nur langsam ein, aber wenn sich die Melodien erst einmal im Kopf festgesetzt haben, wird man sie so schnell nicht mehr los; ein Phänomen, das vielen, wenn nicht gar allen Prog Rock-Werken innewohnt. Das aber schmälert nicht ihre Qualität, sondern verstärkt sie eher, denn ein Song, der 'easy-listening', sehr schnell eingängig ist, ist genauso schnell wieder aus dem Gedächtnis verschwunden, wohingegen ein Werk, das man sich erst 'einhören' muss, langfristig in Erinnerung bleibt.
Wie bereits erwähnt: Das Original-Album enthielt nur fünf Titel, jeder von ihnen wurde aber ein 'Camel-Klassiker'. Bei zwei der Tracks handelt es sich aber mit einer Spielzeit von jeweils über 9 bzw. 12 Minuten um Mehrfach-Titel, bei denen die unterschiedlichsten Musikstile in einer durchaus homogenen Form Eingang fanden. Dies gilt insbesondere für den wohl bekanntesten Camel-Song "Lady Fantasy", eine Gemeinschaftskomposition aller seinerzeitigen Bandmitglieder.
Doch kurz der Reihe nach vorgestellt. Eindringlich startet das Album mit "Freefall": Im ersten Moment hat man das Gefühl, ein Wüstenwind weht zwischen den Palmen und den Pyramiden des Covers hindurch, bevor die Musik rockig 'einschlägt'. Zunächst wechselnde Solo-Instrumentalphasen, überwiegend zweistimmig, teilweise gegenläufig, aber stets gut anzuhören. Unterbrochen lediglich zweimal von kurzen Vokal-Passagen.
Auch der zweite Song, "Supertwister", - ein Instrumental - startet moderat, bevor es rockiger weiter geht. Insbesondere der mehrfache Einsatz der Querflöte, einem gerade im Prog Rock vielfach eingesetzten Instrument (u.a. auch von Focus) prägt diesen Track.
Es folgt der erste Long-Track: "Nimrodel/The Procession/The White Rider". Dieses Werk ist inspiriert von J.R.R. Tolkiens "Herr der Ringe" und gibt insbesondere Andrew Latimer die Gelegenheit, seine Fähigkeiten sowohl als Gitarrist als auch als Flötist zu präsentieren. Vom literarischen Thema her beeinflusst, erfährt das Werk während seines Verlaufs eine dramaturgische Steigerung. Während "Nimrodel" und "The Procession" (eine von Kirchengeläut und Marschmusik begleitete Prozession) nur jeweils rund einminütige Präliminarien darstellen, widmet sich der über siebenminütige Hauptteil dem "Weißen Ritter", ein in seinen Vokalpartien sehr ruhiger und eingängiger Song, der durch rockige Passagen unterbrochen wird und mit mystischen, leicht sphärischen Klängen dieses orchestrale Werk - und im Original die erste Seite des Albums - beendet.
Auch der nächste Song - und im Original die zweite Seite des Albums - beginnt kurz mit stürmischen Winden, gefolgt von diversen Passagen, die u.a. an Deep Purple jener Tage erinnern. Und schließlich: "Lady Fantasy", eine Suite aus den Einzelstücken "Encounter", "Smiles For You" und dem titelgebenden Stück "Lady Fantasy". Allerdings ist eine trennscharfe Beschreibung der einzelnen Teile nicht möglich, denn die Aufzählung bedeutet nicht, dass (lediglich) drei musikalische Themen nacheinander präsentiert werden. Vielmehr gibt es mehr musikalische Themen, als die Titelaufzählung vermuten lässt; zudem wechseln diese mehrfach hin und her. Trotzdem kann man das Opus, nachdem zum Schluss ein Thema aus der Anfangspassage wieder aufgegriffen wird, als 'insgesamt in sich geschlossen' beschreiben.
Während die LP seinerzeit nunmehr nach weniger als 38 Minuten Gesamtspielzeit zu Ende war, ist die CD angefüttert mit vier Bonustracks und kommt damit auf eine für heutige Verhältnisse angemessene Laufzeit von 68 Minuten. Bei den Zugaben handelt es sich zunächst um drei Live-Aufnahmen aus dem Jahre 1974: "Supertwister", das schon als Studio-Take auf der CD ist, sowie "Mystic Queen" und "Arubaluba" vom ersten Camel-Album (→ Anspieltipp von Jürgen Bauerochse in seinem Review). Den Schlusspunkt bildet eine weitere Version von "Lady Fantasy": Es handelt sich um eine andere Abmischung mit Orgel- und Mellotron-Sequenzen, die von der auf "Mirage" wiedergegebenen Fassung erkennbar abweicht. Außerdem ist diese Version etwas langsamer als die ursprüngliche Album-Version, was sich in einer um 15 Sekunden längeren Laufzeit niederschlägt. Deutlich wird dies zudem an einer um etwa einen halben Ton niedrigeren Tonlage (respektive einer um einen halben Ton höheren Tonlage der Album-Version). Ursache ist hierfür möglicherweise auch die Nutzung einer Bandmaschine mit einer (bewusst oder unbewusst) abweichenden Geschwindigkeit, da kaum anzunehmen ist, dass die Musiker denselben Song in zwei Tonarten eingespielt haben.
Abschließend mein Tipp: Nehmt Euch die Zeit, die Muße und eine gute Flasche Rotwein (nach Belieben natürlich auch andere Getränke) und genießt einfach in aller Ruhe, jedoch bewusst die Musik von Camels "Mirage", am Besten mittels Kopfhörer, der den Sound unmittelbar an/in den Kopf bringt. Lasst Euch ein auf eine Zeitreise von 35 Jahren, Ihr werdet es nicht bereuen.
Übrigens: Auch das Nachfolgeralbum "The Snow Goose" - eine durchgängig instrumentale Suite nach dem Kinderbuch "Die Schneegans" von Paul Gallico - ist absolut hörenswert. Nachdem die seinerzeitige LP - wie eingangs erwähnt - in 'meinem' Album von Camel mit dem Kamel drauf ebenfalls enthalten war, habe ich mir nun die gleichfalls im Jahr 2002 wiederveröffentlichte CD auch noch gekauft. Auch sie ist gegenüber dem ursprünglichen Album um einige Zusatztracks (Alternativ-Versionen bzw. Live-Einspielungen) ergänzt und nicht nur deshalb empfehlenswert.
Line-up:
Andy Ward (drums, percussion)
Doug Ferguson (bass, vocals)
Peter Bardens (organ, mellotron, piano, synthesizer, vocals)
Andrew Latimer (guitars, flute, vocals)
Tracklist
01:Freefall (5:52)
02:Supertwister (3:18)
03:Nimrodel/The Procession/The White Rider (9:16)
04:Earthrise (6:40)
05:Lady Fantasy: Encounter/Smiles For You/Lady Fantasy (12:43)

Bonus Tracks
06:Supertwister (live) (3:14)
07:Mystic Queen (live) (6:09)
08:Arubaluba (live) (7:44)
09:Lady Fantasy: Encounter/Smiles For You/Lady Fantasy (live) (12:59)
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