Ich möchte meine Rezension mit einer äußerst schwierigen Fangfrage beginnen, liebe Leser. Was ist die Lieblingsbeschäftigung der fröhlichen Menschen im meist regnerisch-trüben Albion? Die Antwort darf aus reviewtechnischen Gründen nur so heißen: In den Pub zu gehen! Das jeweilige Stammlokal des englischen Bierkonsumenten ist und war ein heiliger Ort. Das Trinken und das gesellige Zusammensein stehen meist im Vordergrund, aber es wird je nach Stand des Alkoholpegels auch schon mal erfolgreich oder nur noch siegesgewiss auch Darts oder Billard (letzteres ausschließlich um halb zehn) gespielt.
Nun drehen wir doch die RockTimes-Uhr um etwas mehr als 30 Jahre zurück, denn Anfang der 70er bahnt sich in dieser urenglischen Institution eine musikalische Erneuerungsbewegung gegen kommerzielle Gigantomanie und für ehrliche, handgemachte Rockmusik an. Die in den Kneipen von London spielenden Bands gehen zurück zu den Wurzeln der Rockmusik, nämlich zum Blues und zu Country&Western - der Pub Rock ist geboren! Einige wenige Vertreter wie Dr. Feelgood schaffen den Durchbruch, die überwiegende Mehrheit der Bands jedoch geht im anonymen Meer der Rockgeschichte, wie Chilli Willi & The Red Hot Peppers (kurz Chilli Willi) unter; sie werfen bereits 1975, drei Jahre nach der Gründung und nur wenige Monate nach dem Erscheinen des hier vorliegenden zweiten Albums das Handtuch.
Es macht wenig Sinn, die Geschichte der Band detailliert zu erzählen, denn sie wird - auch anhand von Zeitungsauschnitten - ausführlich im toll aufgemachten, 12-seitigen Booklet dargestellt. Mastermind der Formation war der 1987 verstorbene Multiinstrumentalist (Gitarre, Piano, Fiddle, Violine, Lap Steel, Leadgesang) Phil 'Snakefinger' Lithman, der bis auf die Cover alle Songs schrieb. Freund und Gitarrenderwisch Martin Stone gehörte zum Original-Line-Up von Savoy Brown. Zum Kern der Truppe gesellte sich außerdem Paul Bailey (Gitarre, Banjo, Saxophon) und die Rhythmussektion bestehend aus Paul Riley mit seinem dynamischen Bassspiel und Drummer Pete Thomas. Aus der Pub Rock-Mafia war auch noch Bob Andrews (Brinsley Schwarz) als Pianist und am Alt-Saxophon bei den Aufnahmen zugegen.
An der Aufzählung der diversen Instrumente wird bereits deutlich, welche Richtung von der Band bevorzugt wurde: Country, Western, Swing und Bluegrass. Auch einige R&B-Kracher waren mit "Jungle Song", dem Traditional "Just Like The Devil" mit Gast Jo-Ann Kelly als Sängerin oder "9-5 Songwriting Man" vertreten. Aber auch einige Pop- und Westcoast-Einflüsse sind nicht von der Hand zu weisen. Die meisten Kompositionen sind getreu dem Pub Rock-Ethos relativ einfach gehalten. Beste Beispiele hierfür sind die Bluegrass-Rausschmeißer "Fiddle Diddle" und "Truck Drivin' Girl" (Yeehaw!), der von Jesse Winchester stammenden Folksong "Midnight Bus", die als Single veröffentlichte poppige Swing-Nummer "Breathe A Little" und der etwas an Poco erinnernde, relaxte Country-Rocker "We Get Along".
Eine Ausnahme stellt das großartige Stück "Desert Island Woman" dar, welches in seinem langen Instrumentalteil progressiv-fusionartige Züge aufweist, auch wenn einiges an "In Memory Of Elizabeth Reed" von den Allmans erinnert. Wenn auch nicht an Komplexität, aber atmosphärisch kann der langsame Love-Song "All In A Dream" dem vorangegangen Klassiker im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser reichen, denn in der letzten Minute des Songs wird das Geräusch einer Brandung eingespielt, die immer lauter werdend am Ende des Stückes allein zu hören ist. Tja, auch (nur?) auf Konserve kann es so richtig leidenschafltlich werden....
Die B-Seite der zur bereits oben erwähnten Single, "Friday Song", ist der erste Bonus-Track dieser Expanded Edition. Die folgenden vier Songs sind Studio-Outtakes aus 1974, deren Niveau hoch ist. "Don't Hurt The One You Love" und "Words" sind beide hervorragende Songs mit einem gewissen Steely Dan meets Doobie Brothers-Sound, während der fast schon programmatische Country-Rocker "Goodbye Nashville, Hello Camden Town" sicherlich das Zeug zu einem Pub Rock-Klassiker gehabt hätte.
Die drei Konzertaufnahmen aus 1974 stellen unter Beweis, dass diese Band auch live der absolute Bringer war. Auf den traditionellen Bluegrass-Song "Fire On The Mountain" - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Marshall Tucker-Klassiker - folgt "Drunken Sunken Redneck Blues". "Six Days On The Road", geschrieben von Earl Green und Carl Montgomery, popularisiert von unzähligen Interpreten, wie z. B. den für die Band vorbildhaften Flying Burrito Brothers, wird von Lithman ironisch als "national anthem of Pub Rock" angekündigt.
Ein gelungener Abschluss einer CD, die als Zeitdokument von musikhistorischem Wert ist und den Charme der frühen 70er in sich trägt. Interessant für alle, die sich für Pub Rock interessieren, einen der oben genannten Stile mögen oder ganz allgemein auf handgemachte Musik stehen. Meine Empfehlung!
Spielzeit: 65:34, Medium: CD, Castle/Sanctuary, 2006 (1974), Pub Rock
1:Choo Choo Ch'Boogie (3:30) 2:We Get Along (3:02) 3:Desert Island Woman (5:24) 4:All In A Dream (3:54) 5:Fiddle Diddle (2:50) 6:Breathe A Little (2:45) 7:Truck Drivin' Girl (2:14) 8:Jungle Song (3:40) 9:Midnight Bus (2:20) 10:Just Like The Devil (2:46) 11:9-5 Songwriting Man (4:13) 12:Friday Song (4:10) 13:I'll Be Home (2:10) 14:Goodbye Nashville, Hello Camden Town (2:48) 15:I Wanna Love Her So Bad (2:43) 16:Don't Hurt The One You Love (2:08) 17:Words (3:03) 18:Fire On The Mountain (live) (3:08) 19:Drunken Sunken Redneck Blues (live) (4:43) 20:Six Days On The Road (live) (3:17)
Janos Wolfart, 07.09.2006
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