Wenn man unvermittelt durch eine neue Scheibe mitten in seine Jugendzeit - und zwar in die angenehmeren Perioden - zurückgeschleudert wird, so ist das eine Sternstunde für jeden Schreiberling. "Jazzkraut" bietet sogar 71 Sternminuten und das Label - Sireena Records - hat mal wieder einen großen Wurf abgeliefert.
Die deutsche Musikszene war in den 1970er Jahren kreativ auf absolut internationalem Niveau angesiedelt, auch wenn - oder gerade weil (??) - sich damit nicht das große Geld verdienen ließ. Neben reinen Krautrock-Labels wie Brain oder Sky Records, gab es noch links-alternative Verlage wie Pläne, die Künstler wie Lokomotive Kreuzberg (ein Vorläufer von Spliff), Hannes Wader und Die Kanaken im Programm hatten, sowie Trikont, die mit Ton Steine Scherben, den 3 Tornados und Hans Söllner einige 'ganz dicke Fische' an der Angel hatten. Diesen nach durchaus marktwirtschaftlichen Kriterien geführten Unternehmen war gemein, dass sie den unter Vertrag stehenden Musikern größtmögliche Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden.
Das coolste Projekt zogen aber die Anarchos von Schneeball auf. Hier hatten sich Bands zusammengeschlossen, die ihren Vertrieb selbst organisierten und Wege abseits der Plattenindustrie für ihre Vermarktung suchten und nutzten. Hier redete kein 'Boss' ins künstlerische Konzept hinein - musikalische Ideen konnten 1:1 umgesetzt werden. Diese Scheiben sind zum größten Teil niemals auf CD wiederveröffentlicht worden. Umso schöner ist es, dass uns alle Jazz-Rocker Schneeballs auf dem "Jazzkraut"-Sampler begegnen. Embryo aus München dürfte mit Sicherheit die bekannteste Formation sein, aber auch mit echten Perlen wie Missus Beastly, Munju, Holde Fee, Moira und der Real Ax Band darf ein Wiederhören gefeiert werden.
Selbstverständlich dürfen auch Kraan auf einem "Jazzkraut" betitelten Album nicht fehlen. Dagegen fragt man sich, was Volker Kriegel, Klaus Doldinger, Aera und Wolfgang Dauners Et Cetera hier zu suchen haben. Mit 'Kraut' hatte dieser Jazz auf international höchstem Niveau eher wenig zu tun. Nichtsdestotrotz freut man sich aber selbstredend, diese teutonischen Jazz-Stars vertreten zu sehen. Näher vorzustellen braucht man diese Koryphäen allerdings nicht. Nutzen wir den Raum, um den 'vergessenen' Bands ein Forum zu geben.
Los geht es mit Moira, die 1975 quasi aus dem schwäbischen Nichts aufkamen, mit "Crazy Countdown" eine Kultplatte aufnahmen, um danach wieder im 'Off' zu verschwinden. Der Titelsong läutet "Jazzkraut" mit einem babylonischen Gewirr von Geräuschen, das sich in einen 'groovigen' Jazz-Rocker verwandelt, ein. Jörgen Kanwischer (guitars), Rudi Schröder (bass), Burkhard Plenge (Fender Rhodes) und Edgar Hofmann (sax) brillieren in ihren Solopassagen während vier (!!) Schlagwerker für den Rhythmus sorgen.
Embryo sind seit 1967 bis in heutige Tage in den verschiedensten Besetzungen aktiv. Jeder, der sich für deutschen Jazz Rock interessiert, wird und muss sich mit dieser Formation auseinander gesetzt haben. Auch wenn manche Embryo-Phasen, besonders während des Poona-Irrsinns der späten siebziger- und frühen achtziger Jahre, wirklich anstrengend waren, präsentieren sie sich hier mit "Secret" (von der 1974er "Surfin'") von ihrer zuckrigsten Sahneseite. Sphärisch schwebt der Song auf Mellotron-Streichern dahin, während Saxophon, Hammond und Gitarre intensivste Dialoge führen.
Mit der Real Ax Band folgt meine Lieblingstruppe von Schneeball. Nicht nur weil ihre einzige Platte "Nicht stehenbleiben/Move Your Ass In Time" (1978) das mit Abstand coolste Cover der Schneeball-Scheiben hatte, sondern weil sie mit Heinz-Otto Gwiasda (guitar), Dieter Miekautsch (Fender Rhodes) und der Ghanaerin Maria Archer (vocals) über Ausnahmemusiker verfügten. "Pick Your Feet On The Ground" geht musikalisch zwar eher 'konservative' Wege, füllt diese aber mit einer unglaublichen Virtuosität aus.
Den vor zwei Jahren im Alter von 68 Jahren verstorbenen Bassisten und Sänger Uli Trepte, einem Gründungsmitglied von Guru Guru wird auf "Jazzkraut" mit "White Line Fever" ein Denkmal gesetzt. Trepte, schwer suchtkrank, schafft hier ein improvisatorisches Highlight, das die Grenzen zwischen Krautrock und Jazz Rock verschmelzen lässt.
Die große Unbekannte war für mich Annexus Quam, die zwischen 1970 und 1972 zwei Alben zeitigten. Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet der Name 'Verbindung wie...' und das trifft auf "Osmose II" - vom Debütalbum - uneingeschränkt zu. Dieser Song präsentiert sich als ein Cannabis-geschwängerter Trip zwischen Psychedelic-, Jazz-, Space- und Krautrock. Das originell besetzte Septett aus Kamp-Lintfort improvisiert extrem abgefahren. Zugegebenermaßen keine leichte Kost, aber für aufgeschlossene Ohren durchaus genussvoll. Man erinnere sich augenzwinkernd: »Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen«...
Holde Fee haben wir bereits in unserem RockTimes-Repertoire. Bekanntlich schlossen sich die Braunschweiger später als Fee der 'Neuen Deutschen Welle' an, um mit dieser grandios unterzugehen. 1976 klangen sie mit "Reisefieber" sehr 'reisefreudig' - Destination: Südamerika. Jazz Rock mit Latin- und Samba-Elementen sorgen für den sicherlich eingängigsten Song auf "Jazzkraut".
'Muntere Jungs' verkürzte die Würzburger Formation mit Munju auf einen ungewöhnlichen Bandnamen. Vier Platten mit ausschließlich instrumentalem Jazz Rock spielte man zwischen 1977 und 1984 ein. "Ixthuluh (lässig und leiwand)" kann man als 'klassischen' Jazz Rock bezeichnen. Herrlich groovt die Basis um Bandleader Wolfgang Salomon (bass) und Thomas Römer (drums), wobei sich der Bass traumhafte Unisono-Passagen mit Jürgen Benz' Saxophon liefert. Studiogast Ulli Grünwald schießt allerdings mit einem grandiosen Grand Piano-Solo den sprichwörtlichen Vogel ab.
Hier kann man einige Munju-Songs kostenlos downloaden.
Abschließend sei hier die außergewöhnlich gute Underground-Band Missus Beastly vorgestellt. Bandleader war zunächst der Saxophonist/Flötist Friedemann Josch ehe sich später mit dem Gitarristen/Keyboarder Burkhard Schmidt ein kongenialer Partner dazu gesellte. "Fuzzy Don't Go To The Disco" ist dem letzten Album der Band - "Spaceguerilla" (1978) - entnommen. Es war leider das schwächste Werk der Band und konnte an den großartigen Vorgänger "Dr. Aftershave And The Mixed Pickles" zu keinem Zeitpunkt anschließen. Der Song verfügt zwar über eine herrliche, durchgängige Basslinie und ein irres Violinen-Solo, stampft allerdings doch etwas inspirationsarm vor sich hin. Obendrein wird der Song nach gut drei Minuten ausgeblendet, ohne dass (außer dem Bass) eine einzige zündende Idee aufgeblitzt wäre. Die Diskographie Missus Beastlys ist voller Perlen - eine bessere Auswahl wäre durchaus möglich gewesen.
Alles, wirklich alles auf diesem Scheibchen ist wohltuend analog - die Aufnahmetechnik ebenso wie die Instrumente. Die Königin der E-Pianos, das Fender Rhodes Piano, verströmt 'glockige' Klänge, wie sie ein seelenloses Keyboard niemals produzieren könnte. Ihre erste Hofdame, das Wurlitzer Piano, knurrt, dass es eine wahre Freude ist. Die Gitarren sind herrlich direkt - hier zeigen sich handwerkliche Fähigkeiten, deren Fehlen man heutzutage mit ganzen Batterien von Effektgeräten zu kaschieren sucht. Wenn Bässe und Schlagzeuge manchmal etwas 'schwammig' klingen, so ist dies als liebenswerte Reminiszenz an 'die gute alte Zeit' zu sehen. Professionell sind die Aufnahmen nach dem damaligen Stand der Technik allemal, auch wenn aufwändige Hochglanzproduktionen ohne ein finanziell potentes Label natürlich nicht zu realisieren waren. Auch das macht den Reiz von "Jazzkraut" aus.
Sireena Records kündigt auf dem Promo-Anschreiben an: »Prädikat Wertvoll, Ungewöhnlich und irgendwie Zeitlos. Vorsicht: Diese CD macht süchtig!« Uneingeschränkt unterschrieben - treffender kann man es nicht ausdrücken!
Tracklist |
01:Moira - Crazy Countdown (5:44)
02:Embryo - Secret (6:16)
03:Real Ax Band - Pick Your Feet Of The Ground (2:54)
04:Aera - Pfiffe (4:12)
05:Uli Trepte - White Line Fever (5:10)
06:Annexus Quam - Osmose II (3:07)
07:Kraan - Rund um die Uhr (3:30)
08:Klaus Doldinger - Watch it (4:40)
09:Holde Fee - Reisefieber (3:12)
10:Munju - Ixthuluh (6:52)
11:Missus Beastly - Fuzzy, Don't GoTo The Disco (3:16)
12:Guru Guru - Formentera (5:25)
13:Volker Kriegel - Lift! (6:46)
14:Wolfgang Dauners Et Cetera - Yin (9:49)
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