LONG LIVE ROCK 'N' ROLL!

Au Backe, wie abgedroschen.
Aber doch sooooo wahr!

Da flattert mir doch nun tatsächlich ne DVD mit dem programmatischen Titel "Let It Rock" ins Player-Laufwerk und ich sehe drei vermeintliche Rentner auf dem Cover.
Erst jetzt registriere ich erstaunt den Untertitel dieser Veranstaltung: "The 60th Birthday Concert Featuring Jeff Healey, The Band & Special Guests".
Hä, Jeff Healey wird schon 60, der war doch vor 10 Jahren noch verhältnismäßig jung?!
Dann erspähe ich über dem "Let It Rock" - Schriftzug noch drei weitere Namen: Jerry Lee Lewis, Ronnie Hawkins, Carl Perkins.
Wie jetzt, sind diese drei jetzt erst 60 Jahre jung geworden? Da ist ja selbst Mick Jagger schon älter.

Sehr verwirrend das Ganze, da nützt auch der Aufkleber nix, der mir jede Menge "Rock 'n' Roll Classics" wie "Good Golly Miss Molly", "Blue Suede Shoes" oder "Great Balls Of Fire" verspricht.
Ersteren Titel kenne ich persönlich eher von Little Richard, aber dessen Name taucht bisher gar nicht auf.
Also drehe ich total verunsichert die DVD-Hülle um und erblicke neben einer außerordentlich unübersichtlich gestalteten Tracklist einen kurzen Text, der mich nicht viel schlauer macht. Immerhin erfahre ich, dass dieses Konzert bereits 1995 stattfand, als Concert-DVD irgendeinen Award gewonnen haben muss (hä, ich dachte, dieses Teil ist erst am 30.09.2005 herausgekommen?), es sich um eine 'updated version' handelt (ach so, na dann) und es als Bonus eine einstündige Dokumentation mit dem Titel "At The Crossroads Of Rock 'n' Roll" gibt, in der es irgendwie um die Historie und Wurzeln des Rock 'n' Roll gehen soll.
Also ehrlich, hätte ich das Teil bei irgendeinem Händler in die Finger gekriegt, es wäre sofort wieder zurück ins Regal gewandert, obwohl ich ein ausgewiesener Freund der traditionellen, historischen Rock 'n' Roll - Klänge bin.
Für die optische Gestaltung dieser DVD gibt es vom Rezensenten also massive Punktabzüge!

Aber eigentlich ist ja der Inhalt viel wichtiger, also einfach mal die Starttaste gedrückt und schauen, was da alles so kommen mag.
Es kommt das übliche Menü (Play Concert, direkte Titelanwahl, Soundoptionen und Bonusmaterial - hier ja die Doku) und ich beginne glücklicherweise mit der Dokumentation. Hier wird nämlich langsam aber sicher klar, um was es sich überhaupt handelt.

Ausgangspunkt ist ein Konzert zum 60ten Geburtstag eines gewissen Ronnie Hawkins, der eher ausschaut wie der mir wesentlich bekanntere Sam Hawkins, und ansonsten seines Zeichens ein berühmter kanadischer Rockabilly Sänger ist und zu diesem freudigen Anlass alte Rock 'n' Roll und Rockabilly Kollegen wie Carl Perkins und Jerry Lee Lewis eingeladen hatte, genauso wie Mitglieder seiner wohl bekanntesten Begleitcombo, The Hawks, die seit 1959 unter den verschiedensten Besetzungen firmierte, und sich um 1962/1963 aus Levon Helm, Rick Danko, Richard Manuel, Robbie Robertson und Garth Hudson zusammensetzte.
Nun dämmert es mir endlich, denn diese Jungs waren 1966/1967 Begleitcombo von Bob Dylan und gingen anschließend unter dem simplen Namen The Band in die Geschichte ein. Mit deren Drummer, Levon Helm, übrigens der einzige, der nicht gebürtig aus Kanada stammt (Arkansas, der Heimat vom Expräsi der USA, Bill Clinton), arbeitete Ronnie Hawkins doch tatsächlich als einzige Konstante bereits seit dem Sommer 1958 zusammen (Levon Helm war damals zarte 16!).

Und so tauchen beim 60ten Wiegenfest vom ehemaligen 'Ziehvater' Ronnie Hawkins konsequenterweise die Herren Levon Helm, Rick Danko und Garth Hudson (schaut übrigens noch eher wie Sam Hawkins aus!) auf, da Robbie Robertson das Thema The Band ultimativ seit "The Last Waltz" beendet hat und Richard Manuel leider auch schon damals im Rock 'n' Roll - Himmel klimperte.
Zusätzlich konnten noch das kanadische 'Gitarrenwunder' Jeff Healey und ein weiterer Kanadier der jüngeren Garde, nämlich Lawrence Gowan gewonnen werden.
Neben diesen Erkenntnissen entpuppt sich die Dokumentation als Zwitter zwischen Backstage- und Hintergrundinformationsquelle für das 1995er Geburtstagskonzert von Ronnie Hawkins und einem sehr interessanten Einblick in die Historie der sogenannten Rock 'n' Roll - Musik.
Hier werden von Zeitzeugen wie Carl Perkins, Mitgliedern der Original-Comets (Begleitcombo des legendären Bill Haley!) oder einem Original Sun-Records-Session-Drummer (J M Van Eaton - die ganz frühen Sun-Aufnahmen von Jerry Lee Lewis!) und Forschern der popularmusikalischen Entwicklung(en) sehr anschaulich die Wurzeln des Rock 'n' Roll aufgedröselt und aufgezeigt, welch verschiedene Komponenten zusammenkommen mussten, um ein solches Phänomen lostreten zu können, das bis heute, und das wird ebenfalls bei dieser vorzüglichen Doku deutlich, nichts von seinem Reiz und seiner Relevanz für die popularmusikalische Kultur verloren hat.

Diese sehr spannenden und unterhaltsamen 60 Minuten sind bereits für sich das Eintrittsgeld wert und zudem noch sehr unterhaltsam wie aktuell, denn die Doku ist von 2005!
Wir erfahren, dass leider einige der 1995er Protagonisten wie Carl Perkins oder Rick Danko nicht mehr unter uns weilen und bekommen vom Sohn Carl Perkins' aufschlussreiche Einblicke in das Leben eines 'Juniors', der selber Musiker unter einem scheinbar übermächtigen Vater wurde. Darüber hinaus treten spannende Aspekte zu Tage, wie beispielsweise der Einfluss Carl Perkins' auf die Beatles (speziell George Harrison) oder Eric Clapton ("Wenn er wirklich von mir beeinflusst ist, dann hat er wohl alles vergessen bei seiner ganzen Saitenakrobatik" - Originalton Carl Perkins!).

Daneben verblasst der eigentliche Hauptteil dieser DVD vollkommen.
Na gut, es stehen natürlich absolute Könner auf der Bühne, die teilweise in diesen Zusammensetzungen selten bis nie zusammengespielt haben und alleine die physische Anwesenheit von Legenden wie Carl Perkins und Jerry Lee Lewis lockt das ansonsten ziemlich reservierte Publikum, welches allerdings auch vollkommen Rock 'n' Roll-untypisch in einer Art Theater ('Massey Hall', Toronto) auf edlem Gestühl verharrt, aus der Reserve.
Darüber hinaus weiß eigentlich nur die damalige Besetzung von The Band zu gefallen, indem sie eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass sie (zumindest live) noch nichts Wesentliches verlernt haben und der blinde Gitarrenderwisch Jeff Healey, der mehrfach die Altvorderen auf der Bühne in blankes Erstaunen versetzt und nachdrücklich die Frage aufwirft, warum zum Teufel seit nunmehr 5 Jahren nix mehr von ihm zu hören ist. Das kann doch gar nicht sein!

Der Jubilar selber kommt als gutmütiger und gutgelaunter 'Onkel' rüber, beweist, dass er als Interpret und Frontmann nie das Format hat und hatte, in der ersten Liga zu agieren und beschert uns als Bonus Track noch ein Video zu "Days Gone By", wo wiederum die überlebenden The Band -Mitglieder minus Robbie Robertson mitwirken, ein melancholisches, sentimentales Liedchen, einst zum Gedenken an Richard Manuel geschrieben.

Wir bekommen also, um ein Fazit zu ziehen, in einer ausgesprochen dürftigen und irritierenden Verpackung ein Kleinod an aussagekräftiger und unterhaltsamer Doku, verbunden mit der Wiederveröffentlichung eines soliden Konzertereignisses, das in Kanada und den USA 1995 bereits als CD/VHS veröffentlicht wurde und 1996 eine 'Juno Award Nomination' einheimsen konnte, was auch immer das sein soll.
Somit sei das Teil jedem/jeder wärmstens empfohlen, der/die ein Herz für den guten alten Rock 'n' Roll hat und meint, diesbezüglich noch diverse Wissenslücken zu haben und diese schließen zu wollen.
Ich jedenfalls war mir noch gar nicht richtig bewusst, wie groß die meinigen noch sind!

Ausstattung:
4:3 Screen Format
PAL
English, Subtitels u.a. in Deutsch
Dolby Surround 5.1
Dolby Digital Stereo

Das Bild ist bei der Dokumentation sehr gut, beim Konzert etwas flau in den Farben, dem Ton fehlt beim Konzert etwas die räumliche Tiefe und das präzise Bassfundament.