David Crosby / If I Could Only Remember My Name
If I Could Only Remember My Name Spielzeit: 37:04
Medium: CD
Label: Atlantic Records, 1971
Stil: Folk Rock


Review vom 08.12.2009


Grit-Marina Müller
Verehrte Damen und Herren, stellen Sie sich vor: Sie erwachen, öffnen die Augen, sehen sich um. Ein Tisch, eine Blumenvase, zwei Stühle, ein Schrank. Sie erkennen nichts. Überhaupt gibt Ihnen das in aufdringlichem Weiß gehaltene Interieur dieses seltsamen Raums, in dem Sie liegen, Rätsel auf.
Zögernd, zaghaft überwindend ertasten Sie Ihr Bett. Es könnte Ihnen nicht fremder erscheinen. Sie blicken durchs Fenster aus luftiger Höhe, aber in dieser Stadt sind Sie noch nie gewesen! Und verdammt... wie heißen Sie eigentlich?! Sie haben - beim besten Willen - nicht die Spur einer Ahnung. Tja, wer könnte nicht ein Liedchen davon singen. Wie? Sie sogar??
Nun, RockTimes wäre nicht RockTimes, wenn es nicht auch für States of Confusions genannter Art selbstverständlich einen Experten an der Hand bzw. am Ohr hätte, um Ihnen besonders im eingangs beschriebenen Ernstfall mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dr. David Crosby heißt in diesem Moment unser Spezialist, der seine von der Fachwelt geschätzten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet des folgenschweren Gedächtnisverlusts bereits 1971 in außergewöhnlicher, tonaler Form veröffentlichte, und zwar unter dem bezeichnenden Titel "If I Could Only Remember My Name".
Dr. Crosby gilt in Sachen Filmriss, Blackout, etc. als vehementer Verfechter unerlässlicher denkseitiger Alternativen. Dies bedeutet in der Konsequenz: Steht man auf der rationalen Ebene permanent vor den verschlossenen Türen verborgener Fakten, kann und sollte man sich ins hoffnungsvolle Reich der Emotionen begeben. Das stärkste Gefühl eines typischen RockTimes-Lesers beispielsweise ist natürlich die Liebe! Die Liebe zur Musik, versteht sich. - Ein Umstand, den ebenso David Crosby klar erkannte und definierte - "Music Is Love" vollführt das erste mantrisch-beschwörende Take-Off des Byrds-Deserteurs in seinem neuen eigenen Flugunternehmen.
Für die anspruchsvollen Song-Jets der Air Crosby holte sich der zuweilen verkannte Entrepreneur à Succès, ambitionierte Wissenschaftler und clevere Allrounder gleich ein übergroßes A-Team Genre-erfahrener Spitzen-Piloten an Bord - Graham Nash, Jerry Garcia, Phil Lesh, Neil Young, Joni Mitchell, Paul Kantner, Grace Slick. - Sie alle gehören dem Planet Earth Rock'n'Roll Orchestra - einem exklusiven Club von Hochkarätern unter den Genies der damaligen Folk-, Rock-, Psych-, Jam-Szene - an und bringen ihre individuellen Erfahrungen in die brillant konzipierte Identitätssuche des David C. ein.
Als Wild-West-Hero bricht Crosby, der Sound-Rider, mit ungewohnter, Whisky-geschliffener Stimme auf zu seinem achtminütigen "Cowboy Movie". The horse with no name southrockt in lässigster Slow Motion durch Desert-Country. Man schluckt förmlich den glutheißen Wüstenstaub unter der brennenden Mittagssonne irgendwo in Nevada. Am frühen Nachmittag in etwa erreicht David Redford Crosby schließlich "Tamalpais High (At About 3)". Die Oase zu Fuß des mächtigen Mount Tam birgt einen magischen Quell der polyphonen Metamorphose, aus dem unser elektrischer Klangreiter trinkt und fortan wie der dreifach erschaffene Byrds-Angel aus der berühmten Familie der gleichnamigen Luftwesen klingt.
"Laughing" deutet das Glücksgefühl jenes Missverständnisses an, das in dieser subtilen, feinst skizzierten Westcoaststudie, ausgearbeitet zu einem wundervoll opulenten, atmosphärisch weiten Panorama, aufgeklärt wird. »...I was mistaken...only reflections of a shadow...that I saw...« versichert der Refrain erleichternd und verwandelt den rauen Cowboy wieder in ein lachendes, blütenreines Flowerchild. Es schwebt losgelöst im Zentrum eines übersinnlichen Klangrauschs, vor dem man niederknien möchte, mit gesenktem Haupt, tränenden Augen und gefalteten Händen... während Saint Jerry wahrhaft heilige Saiten auf- und eine Gänsehaut nach der anderen vom Körper seiner Anbetenden abzieht.
Zurück zum Ausgangsthema des Albums lenkt uns "What Are Their Names". Jedoch soll sie in diesem spannungsgeladenen Verhör zu einer der entscheidendsten Fragen jeder Zeit enttarnt werden, die Identität von Machtbesessenen, Kriegstreibern und -führern, mit dem Ziel, sie von ihrem unsäglichen Tun abzubringen. Ein schier aussichtsloses Unterfangen, aktuell heute wie vor 38 Jahren, und das trotz der eindringlichen, leidenschaftlichen, jedoch friedlichen Forderung der namhaften Schöngeiste, die sich hier so verheißungsvoll zusammentaten...

»What are their names
And on what streets do they live
I'd like to ride right over
This afternoon and give
Them a piece of my mind
About peace for mankind
Peace is not an awful lot to ask«
Die Séance eines der folgenden Stücke bedarf keiner großen Worte, erläutert Mr. Crosby summend den minimalistischen lyrischen Inhalt der fast beiläufigen und dennoch verführerischen melodischen Sequenz. Nur pure Imagination, gezaubert vom unsterblichen Señor Garcia, der den sagenhaften Dead-Spirit zwischen die Zeilen des "Song With No Words" slidet, erhebt den schwersten Geist und die tiefsten Sinne über die höchsten Wolken.. Ein highest High, in das einen wohl kein 'Gras' der Welt befördern könnte...
But what goes up must come down - Wie schwierig es sein kann mit der Landung und sicheren Bodenhaftung bei den Allwetterverhältnissen des Lebens erklärt "Traction In The Rain" in einem kleinen, reizenden, verträumten Beispielverfahren. Doch das Essenzielle, Absolute bringt uns der Erde noch näher.
So entführt "Orleans" in das puristische Traditional eines längst vergangenen Jahrhunderts. Sie werden unruhig? Ihr Atem stockt? Halten Sie ihn an! Auch nicht das kleinste Geräusch eines Lufthauchs darf diese feierlich zelebrierte, sakrale Prozession stören, die in ihrer würdevollen Schlichtheit nichts weiter beinhaltet als eine simple Aufzählung französischer Kathedralen.
Und, wie sieht es aus? Erinnern Sie sich an Ihren Namen? Noch immer nicht? Dann hilft nur die hypnotische Wirkung der von Dr. Crosby praktizierten gregorianischen Gesänge am Schluss seiner bizarren, meditativen Reise ins (Unter)-Bewusstsein - "I'd Swear There Was Somebody There" - Aha!... Bitte sehr! Der Anfang ist gemacht... Sir Davids stellares Glanzwerk mit seinem fabulös intonierten 9-Punkte-Programm hilft Ihnen aus jeder Identitätskrise.
Attention, Ladies & Gentlemen: Wear your sunglasses! Sie werden dieses vermeintlich schmückende Accessoire tatsächlich zweckentsprechend nutzen wollen auf Ihrem Weg durch das hellst strahlende Crosby'sche Sonnensystem, einem galaktischen Ausläufer im unfassbaren Byrds-Space-Folk-Rock-Kosmos.
Tracklist
01:Music Is Love (David Crosby, Graham Nash, Neil Young)
02:Cowboy Movie (Crosby)
03:Tamalpais High (At About 3) (Crosby)
04:Laughing (Crosby)
05:What Are Their Names (Crosby, Jerry Garcia, Phil Lesh, Michael Shrieve, Young)
06:Traction In The Rain (Crosby)
07:Song With No Words (Tree With No Leaves) (Crosby)
08:Orleans (Traditional)
09:I'd Swear There Was Somebody Here (Crosby)
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