Zusammen mit Lou Reed hatte John Cale 1965 The Velvet Underground gegründet, die heute als DIE Kultband schlechthin bekannt ist. Nach nur zwei Alben, dem (streitbar) genialen "The Velvet Underground & Nico" und dem gewöhnungsbedürftigeren "White Light, White Heat", von denen damals jeweils ca. 37 Exemplare verkauft werden konnten, war bei Lou Reed die Grenze des Erträglichen allerdings erreicht.
Reed, dessen Ego es ihm von jeher unmöglich machte, eine auch nur annähernd ranggleiche Person in seiner Band zu haben, stellte die übrigen Mitglieder, Sterling Morrison (Gitarre) und Maureen 'Moe' Tucker (Schlagzeug) vor die Wahl: Entweder er oder ich! Das Ende vom Lied war, dass Cale gefeuert und durch Doug Youle ersetzt wurde.
John Cale konzentrierte sich zunächst auf das Produzieren von anderen Künstlern wie z.B. Nico oder The Stooges (mit Iggy Pop), bevor er 1970 sein erstes Solo-Album veröffentlichte. Bereits seit den 60er Jahren hatte er eine ganz starke Neigung zur Avantgarde-Musik (u.a. Zusammenarbeit mit La Monte Young), der er jetzt, davor immer von Lou Reed gebremst, freien Lauf lassen konnte.
"Paris 1919", das erstmals im Jahr 1973 erschien, gilt allgemein hin als Cales Meisterwerk. Neben dem Jazz-Bassisten Wilton Felder konnte er dafür auch Richie Hayward an den Drums und das Gitarren-As Lowell George (beide Little Feat) verpflichten, während John ebenfalls die Gitarre, die Keyboards und den Gesang übernahm, sowie außerdem für die Arrangements der allesamt von ihm eigenkomponierten Songs verantwortlich zeichnete.
Sind und waren viele Alben des Walisers nicht gerade leicht verdaulich und wenig dazu geeignet einfach mal im Hintergrund laufen gelassen zu werden, so kann man "Paris 1919" wohl als sein 'Pop-Album' bezeichnen. Wobei dieser Begriff aber auch irreführend sein kann.
Fakt ist aber, dass Cales Musik selten so eingängig und (auch) für Neueinsteiger faszinierend war und ist, wie auf diesem Album.
Neben den bereits erwähnten Musikern ist auch noch (allerdings nicht bei jedem Track) ein ganzes Symphonie-Orchester zugange, das den großartigen Songs noch mehr Atmosphäre und Tiefe gibt.
Aber unter der schönen Oberfläche brodelt es gewaltig. Denn darunter schlummert die fürchterliche Fratze eines bösen Dämons, der nur darauf wartet, sein perverses Werk ausüben zu können. Na gut, das hört sich ein bisschen dramatisch an und ist es vielleicht auch. Es geht um die Texte, die sich grob gesagt um Ambition, Krieg und vor allem Verlust drehen.
Oder auch nicht?
So ist zumindest meine Interpretation. Hier sollte sich jeder sein eigenes Bild machen. John Cale selbst hat einmal gesagt, "Paris 1919" wäre »... ein Beispiel, in der nettest möglichen Art etwas Hässliches zu sagen.«
Dieses Album ist ein durch und durch faszinierendes Werk eines Künstlers, der sich seiner... ja, Kunst mit Haut und Haaren verschrieben hat und seine Zeit nie damit verschwendete, dabei nach rechts oder links zu schauen. Ich erspare mir hier auch auf einzelne Songs einzugehen, da das Album in seiner Gesamtheit den besten, sehr tiefen und
bleibenden Eindruck hinterlässt.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Faszinierend, sehr tiefgehend und trotzdem locker und flockig, gespenstig wie auch von einer unbändigen Schönheit umgeben.
Nach ca. 15 Durchläufen muss ich sagen, dass ich das Gefühl habe, immer noch nicht alle Schätze dieses Meisterwerkes gehoben zu haben, so reichhaltig sind diese insgesamt fast 80 Minuten.
Auf dieser neuen und remasterten Ausgabe (in Jewelbox mit 20-seitigem Booklet, inklusive der Texte) gibt es sage und schreibe 11 Bonustracks als Zugabe. Zum einen das für das Album vorgesehene, in letzter Sekunde aber (aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen) zurückgezogene "Burned Out Affair" sowie alternative Versionen, Probedurchläufe und unterschiedliche Mixe, die es aber alle in sich haben und die mühsam ersparten Kröten für
den Kauf dieses Albums auf jeden Fall lohnen lassen.
Für Freunde anspruchsvoller Musik, wobei anspruchsvoll in diesem Fall nicht als gleichbedeutend mit schwierig zu verstehen ist, stellt dieses Album ein absolutes 'Muss' dar.
Allen, die das Werk schon haben, sei es aufgrund der elf Bonustracks ans Herz gelegt.
Spielzeit:79:14, Medium:CD, Reprise Records, 2006 (1973), Rock
1:Child's Christmas in Wales 2:Hanky Panky Nohow 3:The Endless Plain Of Fortune 4:Andalucia 5:MacBeth
6:Paris 1919 7:Graham Greene 8:Half Past France 9:Antarctica Starts Here
Bonus-Tracks: 10:Burned Out Affair (Outtake) 11:Child's Christmas in Wales (Alternate Version) 12:Hanky Panky Nohow (Drone Mix) 13:The Endless Plain Of Fortune (Alternate Version) 14:Andalucia (Alternate Version) 15:MacBeth
(Rehearsal) 16:Paris 1919 (String Mix) 17:Graham Greene (Rehearsal) 18:Half Past France (Alternate Version)
19:Antarctica Starts Here (Rehearsal) 20:Paris 1919 (Piano Mix)
Markus Kerren, 09.08.2006
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