Vic Chesnutt / Silver Lake
Silver Lake
Mit neun Jahren angefangen Trompete zu spielen, mit 13 dann das Bedürfnis Rock'n'Roll zu hören, mit 16 von den Eltern eine Gitarre bekommen um über John Lennon's Ermordung hinweg zu kommen, mit 17 Johnny Cash getroffen, Tod der Großeltern, Tod der Mutter, Mitglied in verschiedenen Bands, Autounfall, usw. usw.
Letzter Eintrag in Vic's Tagebuch: "Silver Lake".
Und dieses Teil liegt nun vor mir. Es brauchte schon ein paar Hördurchgänge, bis sich die CD bei mir festgesetzt hat. Der erste Versuch ging kläglich daneben. Kein Wunder, grillen und dabei via Blaster hören taugt nicht dazu, denn "Silver Lake" ist zu filigran und detailreich. Zweiter Versuch dann im Auto und da kam dann das erste Aha-Erlebnis. Das WOW-Erlebnis kam dann an der heimischen Anlage.
Sogar meine ansonsten eher dem harten Metal zugewandte Freundin ließ sich zu der Aussage hinreißen: ”Hey, das gefällt mir auch ganz gut.”
“I'm Trough” sowie “Stay Inside” kamen allerdings auch schon beim Grillen gut. Ersterer zeigt, was spannender Aufbau in der Musik bedeutet. Es beginnt sehr minimalistisch und der Focus liegt erst mal auf Vic's Stimme, bis sich dann langsam eine mit Nylon bespannte Gitarre durchsetzt und alles incl. Wurlitzer in einem Jahrhundertgipfel zum Höhepunkt bewegt. Stellenweise klingt's wie Neil Young. Eine Irrsinnsnummer.
“Stay Inside” setzt noch einen drauf: wenn die Band zum Chorgesang einsetzt, sehe ich CSNY vor meinem geistigen Auge. Und wieder dieser absolut geniale Spannungsaufbau, die etwas düster wirkende und stark verzerrte Gitarre im Crazy Horse-Stil.
“Girl's Say” fällt in die Rubrik Storyteller, weil es instrumental eher ruhig zugeht.
Aber wie auch bei allen anderen Titeln lohnt sich ein Blick ins Booklet - bei einem Interpreten wie Chesnutt sowieso - denn es sind keine Trallala-Lyrics:
”yes and girls say "you look great today.
and boys say "hey, show me all your boobs".
girls say, i could use a backrub.
and boys say why you wanna be a bitch?"
Immer wieder zieht sich dieses verzerrte Gitarrenspiel durch die Tracks und die Vocals wirken manchmal stimmlich sehr stark (“Styrofoam”, “Wren's Nest”), dann wieder sehr intim und verletzlich, ja fast weinerlich (“Sultans, So Mighty”).
“Wren's Nest”, auch so ein hammermäßiger Ohrwurm, der mich im Auto durch die rechte Seitenscheibe schauen ließ, denn aus dem rechten Kanal brabbelt der Fuzz Bass dermaßen geil vor sich hin, dass ich schauen wollte, was das wohl für 'ne Harley ist.
“Sultans, So Mighty” beginnt wie eine Operette aus Tausendundeiner Nacht. Ich sehe förmlich den Helden um sein bestes Stück weinen:
”i'm here because I'm a eunuch
i am no threat
i'm here to watch the ladies
and to fan away their sweat”

Jetzt macht auch die verletzliche und weinerliche Stimme Sinn, denk ich mal *g*.
Dazu gesellt sich fast nur ein spärlich eingesetzter Bass und ein Besen, der die Felle streichelt, Harmonien, die Gänsehaut verbreiten. Und neben der Stimme jammern Oboe und Klarinette traurig mit. Starke Nummer, wenn man sich mal reingehört hat.
Da Joe Gastwirt gemastert hat, ist der Klang natürlich vom allerfeinsten. Das Booklet verdient diesen Namen und wer sich diese CD mal über eine feine Anlage gibt, wird sicher nicht enttäuscht sein. In keinerlei Hinsicht, denn wie Eingangs erwähnt: Auch Metaller haben zumindest an den Gitarren ihre Freude.
Spielzeit: 58:59, Medium: CD, Blue Rose Records 2003
1:I'm Trough 2:Stay Inside 3:Band Camp 4:Girl's Say 5:2nd Floor 6:Styrofoam 7:Zippy Morocco 8:Sultan, So Mighty 9:Wren's Nest 10:Fa-La-la 11:In My Way, Yes
Ulli Heiser, 11.05.2003