Das ist der blanke Wahnsinn!!!!!! - ich halte hier mal wieder, und dann noch originalverschweißt, eine Doppel-Langspielplatte (wie ewig ist es her, dass ich das so gesagt habe?) zu je 180 Gramm Vinyl in den Händen und dann noch von keinen Geringeren als den Dissidenten - hammermäßig!
Wer macht so was denn (wieder)? Das war gleich die zweite Überraschung - Sireena Records aus Lübeck, vielen Dank für dieses Engagement! Überraschung Numero tres - ein Bonustitel, genau der letzte Track der zweiten Seite, der zweiten Scheibe. Es ist schon recht ungewohnt geworden, Platten umzudrehen, hatte der Plattenspieler mal wieder was zu tun.
Auf 1.000 Platten limitiert, ergibt sich folgender kurzer Überblick: Seite A mit zwei Titeln (ca. 13 Minuten), Seite B mit zwei Titeln (ca. 17 Minuten), Seite C, na was wohl? - zwei Titel (ca. 16 Minuten,) Seite D mit drei Titeln (inclusive Bonus ca. 17 Minuten). Ja, viel 'Umdreharbeit'.
Dissidenten? Das ist doch "Fata Morgana", "Sahara Elektrik", das ist New Age, sphärische, trancehafte Musik, Weltmusik, die mitreißt und nicht mehr aus dem Kopf geht. Das war ein sehr schönes Konzert auf dem Herzberg Open Air im Jahre 2004 (u.a. mit Esther Bertram und Nippy Noya).
Ja, das ist wohl so alles richtig, das ist gut, aber eben nur ein Anfang, ein kurzer Geistesblitz, was mir zu den Dissidenten zunächst einfällt.
Wann fing das an? Irgendwie Anfang der 80er Jahre; die NDW brachte nicht mehr viel Sinnvolles zustande. Tolle Gruppen, wie Steinwolke spielten seichtes Zeug ("Katharine", pffff), immer mehr Blödsinn dröhnte aus dem Radio, der Volksverblödung wurden dann keine Grenzen mehr gesetzt. Die musikalischen Globetrotter Marlon Klein, Friedo Josch und Uve Müllrich hatten da ein ganz anderes Konzept. Sie elektrisierten 1983 kurzerhand die Sahara. Nachdem sie 1981 mit ihrem Debüt "Germanistan" in die Tiefen südindischer Musik eintauchten, brachten sie nun mit "Sahara Elektrik" und Mitstreitern der Gruppe Lem Chaheb den 'Zeitgeist Nordafrikas' nicht nur nach Europa. Der Beweis ist der riesige Erfolg, den "Sahara Elektrik" weltweit erntete.
Die Dissidenten erzielten einen Gleichklang und eine Ausgewogenheit zweier verschiedener Musikkulturen. Ähnlichkeiten sehe ich hier stilmäßig zum Beispiel zu Tri Atma, die in ihrer Musik neben der traditionellen, indischen Musik Krautrockeinflüsse einbrachten und verwoben.
Nach nunmehr über 25 Jahren, in denen sich die Musiker ständig neu entdeckten, ständig Neues entwickelten (z.B. 2001: "A Worldbeat Odyssey") werden sie erneut zu »…Helden der arabischen Rockmusik.« Sie reagieren musikalisch nicht zuletzt auf eine sich veränderte Welt mit vielen neuen Problemen. »Mit geschichteten E-Gitarren, krachigen Drums, archaischen Chören, pumpenden Bässen, hypnotischer Drehleier und psychedelischer Flöte katapultieren sich Klein, Josch und Müllrich in eine sehr wirklichkeitsnahe Sphäre, jenseits ausgeträumter Ideale von Mulikulti-Musik.« (So hätte ich das auch formuliert!)
Und wie schon so oft, haben sich die Dissidenten namhafte, einheimische Unterstützung hinzugezogen. Es sind die marokkanischen Gruppen Nass el Ghiwane und Lem Chaheb. Diese beiden und die Gruppe Jil Jilala, mit Abdelkrim El Kasbaji und Moulay Tahar El Asbihani bilden den Stamm der populären nordafrikanischen Musik, deren Lieder jedes Kind mitsingen kann, deren Lieder nationales Kulturgut sind, deren Musik »…der Vorherrschaft der süßlichen Liebeslieder ein Ende gesetzt hat .«
Ich bin hier schon mittendrin in der Musik, obwohl das immer noch so eine Art Historie/Vorwort ist.
Neben einem neuen, harten Gitarrensound, treibenden, teils aggressiven Rhythmen, die eine mysteriöse, kalte Atmosphäre verbreiten und an die Kriegsberichterstattung und deren Sprecher aller Sender erinnern, mit ihren 'übersteuerten', verzerrten, sensationellen Berichten, bündelt der »packende Unisono-Chorgesang des Malhoun« die Emotionen auf engstem Raum. Auch deshalb handeln die Texte vom Frieden und der Verständigung der Völker unterschiedlicher Religionen untereinander.
Sie handeln vom sich-begegnen-wollen, von Akzeptanz, von Humanität und wenden sich »gegen religiösen Fanatismus«. Ich finde Textzeilen wie »Make wars history« oder »God gave you something better than magic - brain«! Und es gibt wieder jede Menge Gastmusiker, die ebenfalls für diese tollen Scheiben verantwortlich sind. Für den Gitarrensound zeichnen sich mehrere Künstler verantwortlich; ein Freund aus den 70ern - von Embryo, Roman Bunka, der es sich auch nicht nehmen lässt, seinem Namen »als einer der besten Oud-Spieler Europas« alle Ehre zu machen. Jens Fischer von Tri Atma und Hennig Rümenapp von den Guano Apes runden diesen klasse Sound professionell ab.
Dissidenten ohne Hurdy Gurdys (Drehleiern): Eigentlich kaum vorstellbar und deshalb gleich wieder zwei davon, die der Session diese fast permanenten Tranceelemente verleihen. Aus dem mittelalterlichen Instrument werden wieder und wieder moderne, futuristische Klänge gezaubert - Elke Rogge, die schon mit Hölderlin-Express zu Beginn der 90er Jahre ihr Können zeigte und Till Uhlmann (Gebrüder-Band Ulman).
Der Gesang stand und steht immer wieder im Vordergrund der Dissidenten-Musik und neben den rauen Vocals von Jil Jilala, verstärkten sich die Dissidenten diesmal mit zwei weiteren, ihnen nicht fremden Stimmen aus Casablanca: Mennana Ennaoui, die marokkanischen Folk und Jazz gleichermaßen verbinden kann und Noujoum Ouazza, der bei Lem Chaheb sang und spielte.
Selbst mit der Gestaltung des Plattencovers zeigen sie, was sie wollen: Die Verbindung zwischen arabischer und westlicher Welt, mit dem Pentagramm der marokkanischen Flagge (»Sinnbild für den Bann des Bösen«) auf Schwarz-Rot-Gold (wenn auch längsgestreift).
Die "Tanger Sessions" an sich beginnen gleich mit einer Dankeserklärung an Abdesalam Akaaboune, einem Förderer der marokkanischen Musikszene und Mitproduzenten des "Sahara Elektrik"-Albums, der die Dissidenten damals auch mit dem Schriftsteller und Komponisten Paul Bowles bekanntmachte. Ihm zur Ehre ist dieses Stück, majestätisch und sehr würdevoll und unverkennbar für die Dissidenten. Hier schon hört ihr sehr harte Gitarren und ein hämmerndes Schlagzeug, die Vermischung von Altem mit Neuem, Sprechgesang, den einprägsamen Chor und nach einigen Takten stampfe ich den Rhythmus schon mit. Ebenfalls nicht unüblich die einsetzende Querflöte, die dann eine zeitlang das Geschehen mitbestimmt.
Schon fast funkig knallt der "Morock'n Roll" auf dem Plattenteller. Die Gitarren drängeln, die Drehleiern spielen und spielen, dass ich mir den Sound schnell und gut merken kann, den Gesang gibt es in jeder Chorform, das Schlagzeug wurde zwischen den Titeln nicht ausgeschaltet, es hämmert immer noch so hart wie zu Beginn. Ende 1. Seite.
Das Intro von "Gun Factory" versetzt uns gleich in die arabische Welt, musikalisch, atmosphärisch, um gleich wieder schlagzeugmäßig eingeholt zu werden. Gesanglich sehr orientalisch, wenn da nicht die harten, sehr gut gespielten Gitarren wären. Ein Titel, der die »Kriegsprofiteure der Waffenindustrie« anklagt.
Ein schönes Stück arrangieren die Dissidenten mit "Fata Morgana (Tanger Version)", schnelle akustische Gitarren, freudiger Chorgesang, Drehleiern. Die 9 ½ -Minuten-Version ist ein klasse Highlight und ein gelungener Abschluss der ersten LP.
Mit dem Lied für den 'Regenbogen' beschreibt die Band nicht nur einen weiten Bogen sowie die Spektralfarben in ihm. Sie beschreibt damit die Vielfältigkeit der Religionen, Rassen und Kulturen. Sphärische Flötenklänge (typische Weltmusik) werden schon bald von kurzen, knackigen Gitarreneinsätzen abgelöst. Sehr gute Percussionsarbeit zieht sich durch den gesamten Titel.
'Wahrheit ist die einzige Religion' kracht wieder ziemlich los, sehr, sehr rhythmisch, die ständigen instrumentalen Wiederholungen lassen einen leichten, angenehmen Schwindel aufkommen. Die letzte Seite beginnt mit dem zweiten Teil des "Morock'n Roll", indem die Dissidenten den Zuhörer in die Straßenwelt der arabischen Welt eintauchen lassen - viele klangliche Impressionen auf kleinstem (Zeit-) Raum zusammengefasst.
Funkig, knackig, krachig in den Instrumenten, wiederum sehr melodiös im Gesang, bringt "The World Is A Mirror" den 'alten' Dissidenten-Leitsatz äußerst anspruchsvoll vertont daher.
Es lohnt sich jeder Titel, ebenso das Lesen der Titelunterschriften, mir gefällt die Musik sowieso, also, was soll's - 10 x Ticktack.
P.S.: Kauft Euch das gute Vinyl (beeilt Euch), denn den Bonus (ist echt gut) gibt es bloß da.
Line-up:
Friedo Josch (flute)
Marlon Klein (drums & percussion)
Uve Müllrich (bass, guitar)
Moulay Tahar El Asbihani (vocals)
Abdelkrim El Kasbaji (vocals)
Noujoum Ouazza (vocals, mandolin, cello)
Hassan Miftah (vocals, bouzouki - #A1,A2,B1,C1)
Mennana Ennaoui (vocals - #C1,C2,D2,D3)
Elke Rogge (hurdy gurdy - #A1,B1,B2,C1,C2,D2,D3)
Till Uhlmann (hurdy gurdy - #A2,B1)
Susanne Paul (cello - #B2,D3)
Roman Bunka (guitar, out)
Henning Rümenapp (guitar - #A1,A2,B1,C1,C2,D2,D3)
Jens Fischer (guitar - #A1.A2,B1,C2)
Jorg Kliewe (special guitar effects - #A2)
Tracklist |
LP 1:
A1:Akaaboune's Homage/This Is The World-Not Your Country
A2:Morock'n Roll/God Gave You Something Better Than Magic-Brain
B1:Gun Factory/Heart You Missed It-Time Is A Wolf-That's Why There Are Wars
B2:Fata Morgana (Tanger Version)/The Eagle Sits In The Cage-While The Chicken Are Watching TV
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LP 2:
C1:Song 4 A Rainbow/Make Wars History
C2:Truth Is The Only Religion/Nothing Ever Changes-Except Gods And Fashions
D1:Morock'n Roll-Part II (Kasbah Version)/Who Can't Dance Complains:"The Floor Is Uneven!"
D2:The World Is A Mirror/Show Yourself In It-And It Will Reflect Your Image
D3:Morock'n Roll (Live UFA Fabrik Berlin)/Exclusive Vinyl-Bonus Track |
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