Drive-By Truckers / Decoration Day
Decoration Day
Es ist schon ein Kreuz, die Schwelle von lokaler Bekannheit zum Top-Act zu überspringen. Diese Erfahrungen, die für die Mitglieder der Band durch die Produktion ihres (Konzept-)Albums "Southern Rock Opera" zu Frustationen und Ernüchterungen führten, belegen dies.
Als Vertonung der Story der Southern-Rock Kult-Band Lynyrd Skynyrd bis zum fatalen Flugzeugabsturz am 20.10.1977 wurde die Platte international als zeitgemässes Meisterwerk gepriesen, nicht nur musikalisch, sondern auch im Geraderücken der Missverständnisse über den tiefen Süden, seine Menschen und die Politik, in der sie sich bewegen. Trotzdem fand man fand anfangs keinen Vertrieb.
Schliesslich fand sich der Universal-Ableger "Lost Highway" zu einem Deal bereit, der aber mal so eben Johnny Cash's "American IV" millionenfach absetzte. Von "Southern Rock Opera" gingen gerade mal etwas über 20.000 Einheiten an die Käufer.
"Lost Highway" genehmigte für eine neue Platte trotzdem genug Geld, mit dem die Band entsprechend lange Zeit in Dave Barbe's Studio in Athens, Georgia mieten konnte, um "Decoration Day" einzuspielen. Als die Platte fertig war, war das Label nicht überzeugt, teilweise auch weil sie das final gemasterte Produkt überreicht bekamen und keinen Einfluss mehr nehmen konnten. Die Band liess sich schon während der Aufnahmen nicht reinreden, obwohl dies entgegen der Beteuerung des Labels versucht wurde (sh. "No Depression Nr. 46") und wollte aus dem Vertrag raus, das Label stimmte zu und war fair genug, die Rechte an der Platte der Band zu überlassen (natürlich nicht umsonst, aber immerhin). Es gab allerdings schon einige "Lost Highway" Vorabpressungen, die auch prompt in "eBay" auftauchten.
So sprang "New West Records" gerne auf den Zug und veröffentlicht das neue Werk, in Deutschland erscheint das Album auf dem kleinen und feinen Label "Blue Rose Records". Als erstes fällt das schöne Digi-Pack mit seinem an alte Underground-Comics erinnernden Cover auf, das wieder von Wes Freed stammt, der auch zuvor schon alle anderen Cover für die Band entwarf. Seine ebenso schönen Illustrationen im Innencover sind alles andere als politisch korrekt und ein guter Kontrast zur neumodischen, unsäglichen "Red, White and Blue"-Philosophie vieler anderer amerikanischen Interpreten (die ich verdächtige, damit nur Kohle machen zu wollen)
Musikalisch liefert die Band nichts weniger als den Höhepunkt ihres bisherigen Schaffens ab. Drei Gitarren, das schreit geradezu nach Southern Rock, was die Musik so aber gar nicht ist. Sicher stehen die Truckers mitten drin, reihen sich ein in die Phalanx der großen Bands aus dem Süden, zwischen den Black Crowes und den Bottle Rockets (die beide letztlich auch kein "reiner" Southern Rock waren/sind) sowie manchmal wie in "Marry Me" auch etwas Skynyrd selbst. Für eine Band aus Alabama, die jetzt in Georgia lebt, fast selbstverständlich.
Die Themen, um die es in den Songs geht sind nicht leicht zu verdauen. Ob wahre Geschichten um Verhaftung und Gefängnis nach geschwisterlichem Inzest, aus dem vier Kinder hervorgingen (absolutes No-No-Thema in den USA - auf einen Single-Hit hatten die Truckers es damit sicher nicht abgesehen - sie scheinen eher als Gewissen aufzutreten) in "The Deeper In", verzweifelte Farmer, die sich korrupten Bankern gegenübersehen ("Sink Hole"), die Tragik von Love-Songs ("My Sweet Annette"), bis auf "Sink Hole" (das richtig rockt!), stehen diese Songs als unwahrscheinlich schön instrumentierte Balladen bzw. Midtempo-Songs auch für die Vielseitigkeit der Band, so konsequent (und vor allem gekonnt!) hätte ich das nicht erwartet. Hier wird, wie schon auf dem Vorgänger, eine weitere Brücke zwischen Neil Young und den Südstaatenbands gebaut, in Musik und Aussage. Gibt es weitere Künstler, die dies so beherrschen? Ich kenn' keine.
Logischerweise ist Rock ja das angestammte Terrain der Truckers, und so überzeugen die Gitarrenkracher (die Hauptmahlzeit auf diesem Album) auch jeweils mit intelligenten Soli oder einer Gitarrenorgie, manchmal auch beides gleichzeitig. Bass und Schlagzeug liefern uneigennützig ein Fundament, wie man es kaum besser machen kann, die vielen instrumentalen Fills der Gastmusiker setzen dem Ganzen die Krone auf. Da die Band mit drei Songschreibern gesegnet ist, verwundert auch die musikalische Geschlossenheit dieser Zubereitung, immer mit einem Schuss Twang abgeschmeckt.
Ich muss den Southern-Rock Fans vorsichtshalber sagen, dass dies alles jedoch sehr subtil zusammengesetzt ist, hier springt einem kein Molly Hatchet- oder Blackfoot-Output ins Gehör. Man muss zuhören wollen, im musikalischen Geschehen findet so viel statt, das es zu entdecken gibt! Für die Bikerparty sind die anderen wohl besser geeignet, wer von der Fete schon zu Hause angekommen ist, legt dann sicher gerne die Truckers auf. Die rocken nicht weniger, aber eben anders, auf alle Fälle aber keinen Deut schlechter!
Wie Eingangs schon gesagt, ist die Ausstattung der CD mit Digi-Pack, allen Texten und sonstigen Angaben hervorragend. Der Klang sowie die Produktion können ebenso auf der ganzen Linie überzeugen. Hier gibt's was für's Geld! Nämlich ein Rockalbum im Sinne des Klassikers von morgen, und das trotz der Spielzeit von fast 65 Minuten gänzlich ohne Füllmaterial.
Spielzeit: 64:51, Medium: CD, New West Records/Blue Rose Records, 2003
1:The Deeper In 2:Sink Hole 3:Hell No, I Ain't Happy 4:Marry Me 5:My Sweet Annette 6:Outfit 7:Heathens 8:Sounds Better In The Song 9:(Something's Got To) Give Pretty Soon 10:Your Daddy Hates Me 11:Careless 12:When The Pin Hits The Shell 13:Do It Yourself 14:Decoration Day 15:Loaded Gun In The Closet
Manni Hüther, 26.10.2003