Miles Davis / Kind Of Blue
Kind Of Blue Spielzeit: 65:45 (CD 1), 55:43 (CD 2), 81:00 (DVD)
Medium: CD & DVD
Label: Sony Music/Legacy, 2009 (1959)
Stil: Modal Jazz


Review vom 08.04.2009


Wolfgang Giese
Es ist so gar nicht einfach, etwas über eine Veröffentlichung zu schreiben, über die bereits so viele Worte gefallen sind.
"Kind Of Blue" ist ein Klassiker der Jazzgeschichte, ich wage zu behaupten, gar ein Klassiker der Musikgeschichte, so dass auch viele 'Nicht-Jazzer' zumindestens von diesem Album gehört haben, vielleicht sogar die Musik kennen oder es gar besitzen.
Wohl am umfassendsten hat es sicher Ashley Kahn in seinem Buch "Kind Of Blue: Die Entstehung eines Meisterwerks" beschrieben.
Insofern kann ich meine Rezension eigentlich bereits hier beenden.
Nun gut, einige Basisdaten sollten jedoch nicht zu kurz kommen:
Die Titel eins bis drei wurden am 2. März 1959 und die Titel vier und fünf am 22. April 1959 im Columbia 30th Street Studio, NYC aufgenommen, hinsichtlich der Besetzung verweise ich auf das unten aufgeführte Line-Up.
Genau - also fünf Tracks befanden sich auf der Originalveröffentlichung im Jahre 1959.
In Händen halte ich dagegen eine ganz besondere Ausgabe, ein Digipack, bestehend aus zwei CDs und einer DVD, veröffentlicht zum 50. Bestehen des Albums.
CD 1 enthält neben den fünf bekannten Stücken 10 weitere, nämlich eine Alternativ-Einspielung von "Flamenco Sketches" und kurze "Studio Sequences".
CD 2 ist der für alle, die die 'Einfach-Ausgabe' bereits haben, der weitaus interessantere Part, denn hier finden sich fünf Songs, von der Band am 26. Mai 1958 im gleichen Studio eingespielt sowie eine Live-Aufnahme von "So What", aufgenommen am 9. April 1960 im Kurhaus in Den Haag, Niederlande.
Die DVD umfasst eine erweiterte Ausgabe der Minidokumentation "Made In Heaven" aus dem Jahre 2004, mit weiteren Interviews - alles zusammengestellt von Michael Cuscuna, dem heutigen Blue Note-Produzenten - ein Fernsehkonzert des Miles Davis Quintetts mit dem Gil Evans Orchester, aufgenommen für CBS im Jahre 1959 sowie eine Fotogalerie, das alles zusammen mit rund 81 Minuten Laufzeit.
Nein, ich werde die Rezension hier natürlich nicht beenden, denn, wenn auch bereits viel zu den Aufnahmen gesagt wurde, so habe ich meine Meinung dazu noch nicht geschildert und möchte mich mit meinem ganz subjektiven Befinden aus sehr emotionaler Sicht auch in die Reihe der Beiträge einreihen.
"Kind Of Blue" - ja, wie lange kennen wir uns eigentlich?
Eigentlich noch gar nicht so lange, relativ gesehen.
Denn als ich etwa 1971/1972 zum Jazz kam, war das über den Jazz Rock. Die Spur führte weiter, ab ca. 1973, über den Free Jazz, der unweigerlich das Zusammentreffen mit der Musik von
John Coltrane brachte.
Und ich, der ich immer geneigt bin, der Sache auf den Grund zu gehen, suchte nun nach Quellen, nach Ursprüngen. Die ganz frühen Jazzeinflüsse streifte ich nur flüchtig, blieb fasziniert bei Charlie Parker hängen, und schon war ich bei Miles Davis, der in den 40ern mit Parker zusammenarbeitete.
"The Birth Of The Cool", eine neue Erfahrung mit einer damals neuen Musikrichtung, die ich somit sehr spät nacherleben konnte.
Vom Cool Jazz zu "Kind Of Blue" war es also nicht mehr weit, Coltrane kannte ich nun schon aus seiner Free-Phase, und eines ergab das andere.
Da hatte ich "Kind Of Blue" bald als Tonaufzeichnung auf dem guten alten Tonbandgerät und mehr und mehr faszinierten mich diese Musik, diese Musiker und vor allem diese Platte, eine Kombination intellektueller Tongebung, Emotionen, Ruhe und einem ständigen Zwang, zuhören zu müssen.
Denn das ist 'Zuhörmusik', man kann diese durchaus nebenbei hören. Ich wünschte mir eine Kneipe, in der "Kind Of Blue" den ganzen Abend liefe, aber genussvoller ist es, es sich mit der Platte gemütlich zu machen.
Davis war in einer Zeit des Umbruchs. Die traditionelle harmonische Improvisationsgestaltung, die er durch Charlie Parker kennen und spielen gelernt hatte, sollte der Vergangenheit angehören. So wollte er nach eigenen Worten eine »Entwicklung von melodischen Improvisationen auf der Basis der Reduktion von Akkorden auf ein Minimum«.
Festgelegte Akkordfolgen sollten von gestalterischer Ausprägung bestimmter Harmonieabläufe abgelöst werden. Die sogenannte modale Spielweise war es, die Davis vorantrieb, wie er selbst sagte, brauche er »sich nicht mehr um Akkordwechsel zu kümmern und kann sich viel mehr auf die Linienführung konzentrieren«.
Mit "Kind Of Blue" schliesslich hatte Davis sein Ziel erreicht, sozusagen ein Paradebeispiel modalen Jazz' geschaffen, vielleicht auch darum ein so wichtiges Werk, eine Referenzplatte. Entscheidend hierbei dürfte letztlich auch das Mitwirken des Pianisten Bill Evans gewesen sein.
Als interessant anzumerken sei, dass die fünf ursprünglichen Tracks relativ spontan eingespielt wurden, nachdem sich Davis diese als Skizzen einige Stunden vorher erst ausgedacht haben soll.
"So What", der erste Titel, wird durch Evans am Piano eingeleitet und nach der Bassbegleitung wird durch die Bläser ein kleines Thema vorgestellt, auf das dann sogleich ein Solo Davis' folgt, das sehr zurückhaltend und mit sehr lässiger Eleganz vorgetragen wird, bis John Coltrane, damals noch in seiner Phase der "Sheets Of Sound", mit dem Anspruch eines großen Melodikers, eine gewisse 'Unruhe' in die Melodiefolge bringt, die nun unvermittelt irgendwie an Fahrt gewinnt. Anschließend das mehr traditionell anmutende Solo von Cannonball Adderley, bis Bill Evans die Nummer ihrem Ende entgegen bringt, immer wieder unterstützt durch das Hauptthema.
"Freddie Freeloader" im 12taktigen Bluesrhythmus stellt den Pianisten Wynton Kelly als Solisten vor, der viel erdverbundener als Evans spielt, das hat mehr Groove in diesem Sinne und so wirkt auch der ganze Song herkömmlicher und greifbarer.
Eine ergreifende Ballade ist "Blue In Green", sie wirkt wie 'dahingetupft', ein Hauch von Klängen, Jimmy Cobb am Schlagzeug scheint die Felle mit dem Besen kaum zu berühren, Davis' Trompete ist gestopft; das wirkt auf mich wie ein Gemälde in Pastelltönen. Das kommt so in sich gekehrt, so gedanken- und weltverloren, sicher eine der ergreifendsten Balladen des Jazz, die ich kenne. Auch Trane hält sich hier, ganz im Gegensatz zu seinen damals eher kräftigen Tönen, sehr zurück und Evans ist es hier, der die Töne treiben lässt, so wie die Gedanken, die hierbei entstehen können, für mich ist das Musik zur Meditation, mit 5:36 Minuten leider viel zu kurz.
Ein weiteres, berühmtes Thema, "All Blues", folgt nun. Cobb am Besen treibt das Lied sanft voran. Über quirlenden Pianoklängen schiebt sich ein zartes Thema, von den Holzbläsern gestaltet und darüber eine Melodie von Davis, wiederum mit gedämpfter Trompete, bis es dann plötzlich elegant in einen lasziven, sich wiegendem Swing aufbricht. Ein wunderbar entrückt anmutendes Stück, das uns mit dieser Atmosphäre über 11:32 Minuten erfreut.
"Flamenco Sketches" schließlich ist die Perfektion der beabsichtigten modalen Spielweise. Hier gibt es kein eigentliches Thema, innerhalb verschieden langer Chorusse der einzelnen Solisten wird ganz einfach nur Stimmung erzeugt, die Musik fließt 9:25 Minuten lang. Im Spiel Adderleys als auch Coltranes vermeint man tatsächlich den vom Titel verheißenden Ausdruck spanischer Klänge zu vernehmen, und Coltrane scheint in seinem balladesken Spiel so verinnerlicht zu sein, dass die Emotionen überquellen wollen. Trane, hier als Meister der Ballade, ungewöhnlich zum damaligen Zeitpunkt.
Es ist überhaupt der wohl emotionalste Track der Platte, der uns auf dieser Kollektion gleich noch einmal als Alternate Take ein zweites Mal geboten wird.
Der 'Rest' besteht aus "False Starts" und Titelfragmenten, zum Teil mit Unterhaltungen der Musiker, und wenn sie auch nur 11 Sekunden lang waren, so hat man sie veröffentlicht. Das ist in der Regel nicht 'mein Ding', das ist mehr etwas für Historiker und Komplettisten, aber man muss die Schnipsel ja nicht abspielen.
Für alle jene, die das Album bereits besitzen oder/und kennen, ist natürlich die zweite CD ein besonderes Highlight.
Wie ich oben bereits aufführte, fünf Nummern aus dem Jahr vor den Aufnahmen zu "Kind Of Blue" und ein Livestück aus 1960.
Die 1958er Aufnahmen befanden sich zum Teil auf diversen Veröffentlichungen und sind hier in ihrer Gesamtheit noch einmal zusammengefasst.
Aufnahmen mit viel mehr Energie - gerade die Saxofonisten werden mehr von der Leine gelassen.
"On Green Dolphin Street" ist ein energisch swingendes Stück mit treibender Schlagzeugarbeit von Cobbs. Auch Bill Evans ist wieder am Klavier, wie auch bei den anderen Titeln..., dann wird es auch wieder etwas langsamer mit "Fran-Dance" (eine Widmung an Davis' spätere Ehefrau, die Tänzerin Frances Taylor) als einzige Eigenkomposition. Auch die Ballade "Stella By Starlight" ist nicht von Davis, genau so wenig wie die wunderbare Version des Cole Porter-Stückes "Love For Sale", die hier sehr energisch und vorantreibend in einer kraftvollen Version kommt. Dann gibt es noch eine Alternativ-Version von "Fran-Dance" und die so ganz andere Liveversion von "So What" - hier wesentlich schneller vorgestellt - mit Wynton Kelly am Piano und teilweise entfesselten Solobeiträgen beider Saxofonisten. Wobei deutlich zu werden scheint, wie konträr Davis und Coltrane doch eigentlich waren.
Im Nachhinein ist klar nachvollziehbar, warum sich die musikalischen Wege beider trennen sollten und ich denke, gerade aus diesem Spannungsfeld heraus ist diese einmalige Atmosphäre der Platte "Kind Of Blue" entstanden, die ein Jahr vorher oder ein Jahr danach wahrscheinlich so nicht mehr geklungen hätte.
Zu guter letzt hat man noch den Genuss der DVD. In schwarz-weiß kommen in der Dokumentation viele ehemalige Mitstreiter des Trompeters zu Wort: Jimmy Cobb als beteiligter Musiker, dann Herbie Hancock, John Scofield, Ron Carter, David Liebman, alles Musiker, die Davis' Wege später noch kreuzen sollten, sowie die Pianistin und Sängerin Shirley Horn und auch Bill Cosby äußert seine Ansicht zum Album. Sehr informativ gemacht und die Wahl der deutschen Untertitel ermöglicht es dann auch, den Inhalt besser nachvollziehen zu können.
Nicht in der besten Bild- und Tonqualität, aber historisch unersetzlich dann die Fernsehaufnahmen mit der Gruppe von Miles Davis und dem Gil Evans Orchestra. Dennoch ein Genuss, den ungezwungen wirkenden Darbietungen, übrigens auch in schwarz (oder besser grau)-weiß, zuzuschauen.
Wer möchte, kann sich noch an einer Bildergalerie erfreuen. Und wenn man die CD in den Computer gibt, erschließt sich hier als weiterer Bonus ein PDF Digital Booklet mit einem zusätzlichen Essay von Gerald Early mit dem Titel "The Last King Of America: How Miles Davis Invented Modernity" sowie mit einem Artikel namens "Between The Takes", wo Transkriptionen der Dialoge zu den Sessions angeboten werden, mit Kommentierung durch Ashley Kahn.
Fazit: Ein ohnehin wunderbares Album mit wunderbarer Musik mit wunderbaren Boni - ein würdiges Geschenk zum 50jährigen Bestehen. Erneut wird diese Ausgabe den Status des Albums als meistverkaufte Jazzplatte manifestieren!
Line-up:
Miles Davis (trumpet)
John Coltrane (tenor sax)
Bill Evans (piano)
Wynton Kelly (piano, CD 1: - #2,8,9; CD 2: - #6)
Paul Chambers (bass)
Jimmy Cobb (drums)
Tracklist
"CD 1":
01:So What (9:22)
02:Freddie Freeloader (9:46)
03:Blue In Green (5:36)
04:All Blues (11:32)
05:Flamenco Sketches (9:25)
06:Flamenco Sketches (Alternate Take) (9:31)
07:Freddie Freeloader - Studio Sequence 1 (0:59)
08:Freddie Freeloader - False Start (1:26)
09:Freddie Freeloader - Studio Sequence 2 (1:26)
10:So What - Studio Sequence 1 (1:53)
11:So What -Studio Sequence 2 (0:11)
12:Blue In Green - Studio Sequence (1:56)
13:Flamenco Sketches - Studio Sequence 1 (0:42)
14:Flamenco Sketches - Studio Sequence 2 (1:09)
15:All Blues - Studio Sequence (0:18)
"CD 2":
01:On Green Dolphin Street (9:48)
02:Fran-Dance (5:48)
03:Stella By Starlight (4:43)
04:Love For Sale (11:46)
05:Fran-Dance (Alternate Take) (5:51)
06:So What (17:28)
"DVD":
01:Miles Arrives: Beginnings
02:The Band
03:The Making Of A Masterpiece
04:The Compositions
05:The Impact
06:The Sound Of Miles Davis
 
Externe Links: