Herzlich Willkommen in der Hirnsalat-Chirurgie, werter Rockfan. Schön, dass Sie sich eingefunden haben, das vierzigste Jubiläum dieses wegweisenden Werkes progressiver Popkultur gebührend zu feiern. Aber mal Hand aufs Herz: Gehören Sie etwa auch zu jenen Musikfreunden, denen der Titel des besagten Albums von Keith Emerson, Greg Lake und Carl Palmer zwar ein Begriff ist, zu dem sie jedoch eher das formidable Cover-Artwork assoziieren anstatt griffige Ohrwürmer aus dem Melodiegedächtnis abzurufen?
Keine Panik! Sie müssen sich dabei nun nicht im Geringsten ertappt fühlen oder gar mit Hausverbot in der 'Rock'n'Roll Hall Of Fame' rechnen. Denn Sie sind mit diesem Phänomen selektiver Wahrnehmung definitiv nicht allein. In der Tat haben selbst Kenner der Rockszene aus den seligen Seventies angesichts des Titels "Brain Salad Surgery" eher das gelungene Gemälde des Schweizer Malers und Bildhauers H.R. Giger vor Augen, das die Plattenhülle ziert, als konkrete Songs vor Ohren.
Dies wird aus zweierlei Gründen niemand verwundern: Zum einen ist Gigers Kunst wirklich außergewöhnlich und sorgte für einen wahren Eye-Catcher und zum Anderen ist die Musik auf "Brain Salad Surgery" oftmals alles andere als leichte Kost. Dennoch lohnt sich die genauere Betrachtung beider Komponenten, um dieses Gesamtkunstwerk adäquat zu würdigen.
Ein zentrales Thema in der Malerei des eidgenössischen Designwunders ist die Verbindung organischen Lebens mit einer hypertechnisierten Mechanik. Die fotorealistischen Gemälde bilden Menschen ab, die Teile von Maschinen geworden sind und umgekehrt. Für viele Rezipienten war diese düster-visionäre Ästhetik Anfang der 70er Jahre noch starker Tobak. Allzu verstörend waren die Motive, die Giger detailversessen auf Leinwand airbrushte, pinselte oder zeichnete. Dennoch fällt es schwer, sich dieser symbolgewaltigen Imaginerie zu entziehen. Fast ein Jahrzehnt später entdeckte Hollywood Giger und seine Arbeiten für Horrorklassiker wie "Alien" oder "Poltergeist II" sind legendär und wegweisend für cinematografisches Design.
Gerade der Kulturkampf zwischen belebter Natur und kalter Technik, zwischen Harmonie und Gewalt sind auch die Pole, die das Werk von Emerson, Lake & Palmer wie ein roter Faden durchziehen. Ansatzweise findet sich diese Dualität bereits in früheren Werken des gigantomanen Rocktrios, z. B. in "Tarkus". Auch "Brain Salad Surgery" thematisiert diese Kontraste textlich und kompositorisch. Vor allem die Lyrics von "Karn Evil 9", dem Herzstück dieses Albums, befassen sich mit dem Eindringen von kalter Technik in eine organisch belassene, natürliche Welt. Die Texte gehen auf das Konto von Pete Sinfield, seines Zeichens Haus- und Hofdichter bei King Crimson und sind dabei oftmals sehr reich an Wortspielen, was sich schon im Titel des Major Opus zeigt: Schnell gelesen erklingt da "Carnival 9", also 'Volksfest Nummer neun', aber in der Schreibweise "Karn Evil" mutiert das ausgelassene Treiben zum 'Fleisch gewordenen Bösen'.
Doch schon bevor Emerson und seine Kumpane diese düster-apokalyptische Suite zelebrieren, setzt die Formation auf Kontraste.
Fast schon sprituell startet die Scheibe mit dem hymnischen "Jerusalem", einer Vertonung des gleichnamigen Gedichts von William Blake. Die Melodie entstammt einem alten, englischen Choral und wurde durch den ELP-typischen Stil fit fürs zwanzigste Jahrhundert gemacht. Und, siehe da: Das Ganze funktioniert auch noch im neuen Jahrtausend. Lake singt schön wie selten, während Emerson sich wieder mal wie das gesamte 'London Symphony Orchestra' gebärdet. Palmer hält sich hingegen noch etwas im Hintergrund - kein Wunder: In der darauffolgenden "Toccata" darf er sich austoben. Das komplexe Werk ist um sein grandioses Drumsolo herum gewoben. Palmer zeigt, was so alles in ihm steckt. Schon damals bewies er, dass er weitaus mehr ist, als nur eine inkarnierte Rhythmusmaschine. ER behandelt das Drumset wie andere ein Melodieinstrument. Seine Soli erschöpfen sich nie in der billigen Aneinanderreihung ewig gleicher Patterns sondern wirken stringent durchkomponiert. Die vertrackte Rhythmik und Melodik machen die "Toccata" zu einem eher sperrigen Werk, das lediglich durch Emersons warme Hammondsounds und Lakes Bassarbeit geerdet wird.
Ein wildes, orgiastisches Klangerlebnis, das man nicht mal so nebenbei genießen kann. Aber gerade, wenn man was gegen Magenschmerzen einwerfen möchte, erfolgt der nächste Kontrast mit "Still …You Turn Me On". Die Nummer ist schlichtweg eine der schönsten Balladen aus dem Schaffen von ELP, wenn nicht des gesamten Prog Rocks. Daneben nimmt sich der alte Hit "Lucky Man" wie eine Fingerübung in Sachen Schmusepop aus. Werden gemeinhin stets Lakes flinkefingrige Gitarrenkunst und sein einflussreiches Bassspiel gewürdigt, zeigt er hier, welch fantastischer Sänger er in jenen Tagen war. Seit "Epitaph" von King Crimson hatte man ihn nicht mehr so beseelt singen hören. Eine wahrhaft klassische Nummer zum Dahinschmachten, die durch eine originelle Wah Wah-Hookline im Refrain vor dem Abdriften in schmalzige Gefilde gerettet wird. Und was folgt nun? Richtig - der nächste Kontrast!
"Benny The Bouncer" ist ein musikalischer Joke und zeigt wieder mal Emersons Vorliebe für Ragtime und Vaudeville. Über die Melodiekapriolen legt sich noch ein marktschreierischer Pseudogesang. Nun ja - sicher keine musikalische Meisterleistung, aber der 'hopsende Benny' sorgt doch dafür, dass auch ein Quäntchen Humor in der 'Hirnsalat-Chirurgie' aufblitzt. Ein kleiner, aber entscheidender Farbtupfer in der Gesamtkonzeption des Albums, gerade rechtzeitig, bevor das ausufernde "Karn Evil 9" die Szenerie beherrscht. Die fast 20-minütige Suite ist eine Tour de force durch Stile, Tempi und Rhythmen, zwischen typischen Rockinstrumenten und damals neuartigen, synthetischen Klängen. Emerson, Lake And Palmer hatten ihren Stil gefunden und auf ihren vorherigen Longplayers ausgiebigst ausgelebt. Als die Wilden des Prog wollten sie natürlich nicht auf der Stelle treten und erweiterten ihr Instrumentarium mit jeder Menge Spielzeug aus dem Hause Moog. Mit dem Apollo war gar der erste polyphone Synthesizer der Welt auf "Brain Salad Surgery" zu hören und Carl Palmer ließ sich spezielle elektronische Drums entwickeln. Glücklicherweise erlagen die drei Ausnahmemusiker nicht endgültig der Faszination des Neuartigen. Nichts gegen elektronische Musik, aber gerade in einem rockigen Umfeld klingen die damals innovativen Sounds mit einem Abstand einiger Jahrzehnte doch zeitweilig wie Billigkeyboards für das Kinderzimmer. Die gute, altmodische Hammondorgel klingt auch nach all den Jahren hingegen noch immer warm und zeitlos schön.
Mit seiner vielschichtigen Melodik und den wirren Rhythmuswechseln erinnert "Karn Evil 9" vielleicht mehr an Werke der proggigen Kollegen von Yes. Vom treibenden Rock'n'Roll bis hin zur verschachtelten Avantgardenummer bleibt fast keine stilistische Schublade ungeöffnet. "Karn Evil 9" macht es dem Zuhörer nicht leicht, was vielleicht mit ein Grund dafür ist, dass in der allgemeinen Wahrnehmung eher das nachvollziehbarere Pictures At An Exhibition als der definitive Klassiker der Formation gilt. Gleichzeitig markiert der mehrteilige Longtrack auf "Brain Salad Surgery", wie es mit ELP weitergehen würde. Mit späteren Scheiben wie "Works" sollten die Strukturen gar noch komplizierter werden. Erst auf dem vorläufigen Finale der Zusammenarbeit dreier Rockdinos, "Love Beach" zeigte man sich wieder gefälliger.
Welches Fazit zieht man nun zum vierzigsten Jubelfest von "Brain Salad Surgery"? Zunächst mal muss man das Album als Klassiker würdigen und in der Rückschau mit Verwunderung feststellen, dass in den frühen 70er Jahren solch diffizile Musik noch die Massen in die großen Hallen und Arenen zog. Emerson, Lake And Palmer waren damals wahre Superstars und zogen mit mehreren Trucks voller Equipments durch die Welt. Schon alleine die Erinnerung an solche Zeiten rechtfertigt die Veröffentlichung der limitierten Sammleredition eines Klassikers wie "Brain Salad Surgery". Die Crux an genau diesem Album ist, dass man ihm ein wenig zu genau anhört, wie die Macher um jeden Preis bemüht waren, einen Meilenstein des Rock zu erschaffen. Zumindest klingen weite Strecken dieser Platte ein wenig überambitioniert. Das klingt ein wenig nach 'schneller, höher, weiter' auf musikalischem Terrain. Im Gegensatz zum vorangegangenen Output der Band ist das Konzept nicht immer für den Zuhörer nachvollziehbar.
Und dennoch ist die Scheibe ein wahrer Klassiker des Genres Progressive Rock, in dem man immer wieder neue Details entdecken wird und der seinen Reiz auch nach 40 Jahren zu entfalten weiß.
Das Remastering des Originalalbums für die Jubiläumsausgabe kann als gelungen betrachtet werden. Der Sound ist auf der Höhe der Zeit und die Klangfülle ist beeindruckend.
Das Bonusmaterial auf der zweiten CD, vollmundig als "The Alternate Album" betitelt, bietet einen interessanten Einblick in die kreative Arbeit, die die Musiker in die Scheibe gesteckt haben. Die kürzeren Songs sind hier größtenteils mit anderen Abmischungen vertreten, aber das Kernstück des Oeuvres, "Karn Evil 9" erklingt in einer bislang unveröffentlichten Version. Diese unterscheidet sich zwar nicht wirklich maßgeblich von der eigentlichen Albumfassung, aber für Emersonisten, Lakeologen und Palmerianer birgt diese alternative Aufnahme doch interessante Details. Als Bonbons für Nimmersatte enthält die Scheibe noch diverse Promo-Takes, beispielsweise die Flexidisc, die anno '73 dem New Musical Express beilag, Single-B-Seiten und die ein oder andere Instrumentalfassung. Insgesamt bietet diese Scheibe schöne Extras, aber ein "Alternate Album" ist daraus nicht geworden. Interessant, unterhaltsam, aber nicht notwendigerweise essentiell. Eine Liveversion des außergewöhnlichen Materials hätte da vielleicht deutlich mehr Reize geboten.
Die Audio-DVD ist für Soundfetischisten allerdings wirklich ein Schmankerl - auch wenn nicht das Pulver neu erfunden wurde, toppt der Klang dennoch selbst das bereits gelungene CD-Remastering.
In jedem Fall lohnt dieses Werk der Ausnahme-Progger auch nach vier Jahrzehnten eine intensivere Auseinandersetzung. Darum sind jene Zeilen aus "Karn Evil 9" selbst im 21. Jahrhundert noch höchst zutreffend: »Welcome back my friends, to the show that never ends! Come inside, come inside!« In diesem Sinne - willkommen zurück in der Hirnsalat-Chirurgie!
Line-up:
Keith Emerson (organs, piano, harpsichord, accordion, custom-built Moog synths, Moog polyphonic ensemble, vocals)
Greg Lake (vocals, bass, Zemaitis electric 6-string and 12-string guitars)
Carl Palmer (drums, percussion, percussion synths)
Tracklist |
CD 1 - The original album 2013 remastered:
01:Jerusalem
02:Toccata
03:Still…You Turn Me On
04:Benny The Bouncer
05:Karn Evil 9 - First Impression (part one)
06:Karn Evil 9 - First Impression (part two)
07:Karn Evil 9 - Second Impression
08:Karn Evil 9 - Third Impression
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CD 2 - The alternate album:
01:Karn Evil 9 - Third Impression Original Backing Track
02:Jerusalem First Mix
03:Still …You Turn Me On First Mix
04:Toccata *Previously Unreleased
05:Karn Evil 9 - First Impression (part one) *Previously Unreleased
06:Karn Evil 9 - First Impression (part two) *Previously Unreleased
07:Karn Evil 9 - Second Impression *Previously Unreleased
08:Karn Evil 9 - Third Impression *Previously Unreleased
09:Excerpts From Brain Salad Surgery NME Flexi Disc
10:When The Apple Blossoms Bloom In The Windmills Of Your Mind I'll Be Your Valentine B-Side 11:Single (K13503)
12:Brain Salad Surgery B-Side Single (K10946)
13:Brain Salad Surgery Instrumental
14:Karn Evil 9 (3rd Impression) Diff Version
15:Karn Evil 9 (3rd Impression) Instrumental
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Super Sonic Brain Salad Surgery DVD-A:
Featuring the original mix remastered & new 2014 stereo mix
Both in MLB Lossless 24/96 & LPCM 24/96
Flac Files are also included
01.Jerusalem
02.Toccata
03.Still… You Turn Me On
04.Benny The Bouncer
05.Karn Evil 9 1st Impression Part 1
06.Karn Evil 9 1st Impression Part 2
07.Karn Evil 9 2nd Impression
08.Karn Evil 9 3rd Impression
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Externe Links:
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