Wieder mal Bock auf was ganz Großes? Darf es auch alt sein? Dann bietet sich dieser klassische Progressive Rock in Form von "Moving Waves" geradezu an. Diese im April/Mai 1971 in den Sound Techniques und Morgan Studios in London aufgenommene Platte hat erstaunlicherweise immer noch keine Patina angesetzt!
Es gibt schon ein paar Kuriositäten aufzuzählen. Als die LP im Oktober 1971 auf den Markt kam, hatte sie im holländischen Original ein anderes Cover und hieß dort "Focus II". Der Rest der Welt lernte sie als "Moving Waves" kennen.
Lizenznehmer in England und den USA war die EMI, in anderen europäischen Ländern - außer eben Holland - zierte der Polydor-Schriftzug rechts unten das Cover.
Das lange Epos "Eruption" war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in fünf Abschnitte unterteilt, die in den USA von a. bis e. alphabetisiert waren. In Europa dagegen wurde das Stück von I. bis V. durchnummeriert.
Und zum guten Schluss wurde es im CD-Zeitalter in 15 (Red Bullet-CD) als a. bis p. bezeichnete bzw. 16 (IRS-CD) Abschnitte unterteilt. Huh... ich halte mich einfach mal an die Angaben meiner alten Polydor-LP. Die weist jedoch auf dem Cover andere (kürzere) Spielzeiten aus als die Red Bullet-CD! Wobei die CD-Angaben stimmen. Vielleicht hatten sie 1971 irgendwelche Schätzeisen? Bei "Eruption" ist der Unterschied mit über 30 Sekunden schon heftig, die Stücke beider Medien sind nämlich absolut identisch... jetzt aber genug der Erbsenzählerei...
Zu Focus selbst muss man ja kaum was sagen; die Geschichte ist hinlänglich bekannt. Nur vielleicht soviel: In der ersten Hälfte der Siebziger hatten die Holländer mit Golden Earring und Focus auch international zwei gewichtige Eisen im Feuer. Golden Earring hatten 1973 mit dem Monster-Hit "Radar Love" (aus "Moontan") in den USA Mega-Erfolg; das war und ist wohl der Roadsong überhaupt, den man auch heutzutage noch immer im FM-Rockradio in Amerika hört. Focus war ein ähnlicher Status schon kurz vorher mit diesem Klassiker auf dem 'Longplayer-Markt' gelungen. Auf dem europäischen Kontinent waren beide Bands sowieso im Rock-Olymp angelangt.
"Hocus Pocus" eröffnet unser musikalisches Prog-Schätzchen - nicht etwa mit Keyboards, sondern mit einem Erste-Sahne-Heavy-Rock-Riff von Jan Akkerman. Hier entwickelt sich nach dem gewaltigen Einsatz von Pierre van der Lindens Schlagzeug eine mitreißende Power bis... bis man dann eher verdutzt das Jodeln in hohem Falsett von Thijs van Leer vernahm. »What the heck was this?« haben sich mit mir im Winter 1971 sicherlich unzählige Rockfans rund um den Globus gefragt. Das war (und ist) so überraschend - eher bizarr - dass man einfach ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. Hohe Chartplatzierungen waren dann auch garantiert und selbst die Qualitätspresse in England (The Guardian) schrieb von »einer außerordentlich bedeutenden Band«.
Die anderen Tracks der A-Seite der LP sind dagegen in einer ruhigen Art und alle haben ihre liebenswerten Momente, ohne dass ich sagen könnte, dass diese mein Interesse wirklich geweckt hatten. "Le Clochard" mit schöner akustischer Gitarre recht fließend, "Janis" dann mit dominierender Querflöte, jedoch genauso ruhig wie auch "Moving Waves" (bei dem es aber wieder Gesang gibt). "Focus II" stimmt jedoch ohne Zweifel auf das ein, was diese Platte dann doch ausmacht: "Eruption".
Dass die Musiker alle in irgendeiner Weise klassische Musik studiert hatten, äußerte sich schon in deren genannten musikalischen Vorlieben, da wurden u.a. Bach und Bartók genannt. Wie teilweise schon auf dem Debüt "In And Out Of Focus" wurde hier im 23-minütigen Magnum Opus die sogenannte 'ernste Musik' in einer Art Prog-Rausch im Sinne der Bedeutung des Titelnamens (Eruption = Ausbruch) in bis dahin kaum gekannter Weise aufbereitet. Damals (und wohl auch heute noch) kamen mir nur noch die Valentyne Suite von Colosseum, ein paar Songs der "Fragile" von Yes oder auch Pictures At An Exhibition von Emerson, Lake & Palmer unmittelbar in den Sinn.
"Eruption" ist sicher ein Musterbeispiel für klassischen Prog, ohne Wenn und Aber. Verwunderlich bleibt die Grundidee. Auf dem Backcover der LP liest man die Aussage, dass die 'basic musical idea' von Thijs van Leer stammt (wieder ein unrühmliches Beispiel für ebenso unordentlich edierte CD-Cover, denn dort finden sich keine näheren Angaben).
Wer wie ich irgendwann mal Zugang zu klassischer Musik gefunden hat und diese auch schätzt, kennt sicherlich einige der verschiedenen Vertonungen klassischer Komponisten über das Thema der griechischen Mythologie "Orpheus und Eurydike". Eine davon ist Jacobo Peris' Oper "Eurydike" (um 1600), die nur teilweise erhalten ist. Einige Quellen betonen, dass "Eruption" seinen musikalischen Ursprung hier hat. Ich selbst kenne diese Oper jedoch nicht. Ist auch egal, denn was immer Thijs van Leer hier entweder selbst komponiert oder auch nur adaptiert hat ist aller Ehren wert.
Was Jan Akkerman, Pierre van der Linden, Thijs van Leer und Cyriel Havermans hier in kleinen, kurz aneinandergereihten Dramen in einem einzigen großen Spannungsbogen aufbauen und zusammenhalten, haut den Fan wohl vom Hocker. Leise Klaviertöne, saftige Orgel- und Mellotronstimmen, punktgenaue Bass- und Drumeinlagen verziert von fast jeglichen Schattierungen der E-Gitarre, teilweise sakral... all das belegt das überragend sichere Zusammenspiel der vier jungen Niederländer, die sich hiermit ihr eigenes Denkmal errichtet haben.
Wer als (junger) Fan der Prog-Fraktion "Moving Waves" nicht kennt, sollte dies schleunigst ändern. Und wer sie kennt, hört sie sicher bis ans Ende aller Tage immer mal wieder gerne. Wenn einem ab und zu so vieles Mittelmäßige zum Hals raushängt, kann man sich zielsicher mit dieser großartigen, spannenden Platte aus der Langeweile rausziehen. Klappt immer!
Tracklist |
01:Hocus Pocus (6:42)
02:Le Clochard ("Bread") (2:01)
03:Janis (3:09)
04:Moving Waves (2:42)
05:Focus II (4:03)
06:Eruption (23:04)
I. Orfeus-Answer-Orfeus
II. Answer-Pupilla-Tommy
III. Answer-The Bridge
IV. Euridice-Dayglow-Endless Road
V. Answer-Orfeus-Euridice
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