Foo Fighters / The Colour & The Shape
The Colour & The Shape Spielzeit: 49:09
Medium: CD
Label: Roswell Records, 1997
Stil: Alternative Rock


Review vom 02.06.2013


René Francke
Sind wir doch mal ehrlich: Den Namen Dave Grohl verbinden auch heute noch viele von uns zuerst mit Nirvana. Dabei hat sich Herzblutmucker Grohl seit dem Freitod Kurt Cobains 1994 weg vom Grunge hin zu einem musikalischen Tausendsassa entwickelt, der die Musikwelt immer wieder aufs Neue bereichert. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Kopf der 1995 gegründeten Foo Fighters braucht man sich nur mal die Liste seiner bisherigen Projekte und Kollaborationen anschauen, um sich der immensen Verdienste Grohls bewusst zu werden (u.a. Queens Of The Stone Age, Them Crooked Vultures, Probot, Tenacious D, Sound City).
Spätestens seit dem im Mai 1997 erschienenen Zweitwerk "The Colour & The Shape" der Foo Fighters hat sich Grohl als Musiker endgültig von den Fesseln der Nirvana-Vergangenheit befreit, sozusagen emanzipiert. Klar, es gibt auch heute noch neunmalkluge Rezensenten, die unermüdlich versuchen jedem Grohl-Song eine Referenz zu Kurt Cobain anzudichten. Und womöglich liegt man gerade bei dem vorliegenden Meisterwerk aufgrund seiner zeitlichen Nähe zum Ende Nirvanas und dem nachhallenden Trauma auch gar nicht so daneben. Doch wer das Schaffen Grohls nur auf Nirvana begrenzt, ist entweder taub und blind oder tot.
Dieser Interpretationseifer geht doch schon los beim ungewöhnlich ruhigen, rührseligen, ja schier herzzerreißenden Opener "Doll". Dort singt Grohl: »In all of the time we've shared / I've never been so scared.«. Gefürchtet hat er sich also, aber wovor denn? Vor der … ach, lassen wir das. Ein in seiner offenherzigen Larmoyanz gewagtes, aber magnetisch einladendes Eröffnungsstück, weil kurz und knackig. Mit einem urknallartigen Peng schießt die frivole Rock-Rakete "Monkey Wrench" mit Überschall in den Orbit. Mir jagt deren jugendlich leichtsinnige und rasende Melodie noch immer jedes Mal eine Freudenträne ins Knopfloch.
"Hey Johnny Park!" ist kein Ohrwurm, nein. Dies ist ein unverschämter Ohrenkneifer, der sich schlitzohrig durch das Trommelfell ritzt, um sich anschließend in den Gehörgängen einzunisten - mit Wohnberechtigungsschein versteht sich, und das auf Jahre hinaus. Hier wechseln sich brachial stampfende Refrainlinien mit federleichten, an gesellige Jazzbarabende erinnernde Strophenparts ab. Die Nummer mündet in "My Poor Brain", das mit einer chaotisch pfeifenden und quietschenden Disharmonie eröffnet wird. Doch schlagartig findet man sich in einer schaumbläschenbildenden Strophe wieder, in der Grohl zunächst mit himmlischer Falsettstimme überrascht. Wie ein amoklaufender Irrer artet dieses Stück letztendlich in einem schädelzertrümmernden Blackout-Refrain aus, bis der Saft abgedreht wird - grandios. Flink hängen die Verstärker wieder am Stromnetz und schon schraubt sich "Wind Up" gleichermaßen rifflastig und schreitherapieartig in schwindelerregende Höhen empor.
"Up In Arms" bietet nur eine kurze Verschnaufpause, weil es zwar übertrieben dösig beginnt, aber nach missmutigen Pfiffen aus dem Publikum in eine Uptempo-Popnummer explodiert. Ein furchterregendes Drumintro bringt die wundervoll wuchtige Walze "My Hero" ins Rollen. Wer jetzt noch zu dicht an den Boxen steht, wird gnadenlos plattgewalzt. Urgewaltig und mit ausgeklügelten Details treibt die Band diesen Song wie eine übermächtige Sau durchs Dorf.
Weiter geht's mit den Kontrasten: "See You" tänzelt als burlesk-angehauchtes Intermezzo zwischen den Foo Fighters-Welten, ohne an Ernsthaftigkeit einzubüßen. "Enough Space" ist die kleine Schwester von "My Poor Brain" - auch hier berserkern die Foos noch einmal so richtig derbe, als hätte ihnen jemand das Lieblingsspielzeug weggenommen.
Und dann ist da noch "Everlong". Zeitlos. Zauberschön. Berührend. Ein wahrlich zeitloses Stück Musikgeschichte. Allein für diesen Song lohnt sich der Kauf des ganzen Albums. Ein jeder, der schon einmal bis über beide Ohren verliebt war, wird sich diese Frage so oder anders gestellt haben: »If everything could ever feel this real forever / if anything could ever be this good again.«. In ihr schwingt noch die anfangs alles vernebelnde Liebestrunkenheit mit, doch allmählich muss sie der Vernunft und der Klarheit weichen, dass dieses Hochgefühl nicht ewig fortdauern kann. Allerdings befindet man sich noch in der Phase, in der man diese Gewissheit nicht einsehen kann, und nicht möchte; man will, dass es ewig so weiter geht - all dies kommt in diesem einen Satz zum Ausdruck. Und die rasende Liebe, die in all ihrer Bedeutung und Universalität mit diesem Stück so perfekt in Klang gesetzt wurde - das kann man nicht beschreiben, das muss man gefühlt haben. Dieser Song wird einfach nie langweilig, er ist im wahrsten Sinne des Wortes immerwährend. Und spätestens bei der Zeile »Breathe out so I can breathe in.« möchte ich mich im Äther auflösen. Die Foo Fighters haben bis heute eine Vielzahl wundervoller Songs geschrieben, keine Frage, aber "Everlong" ist schlicht außer Konkurrenz und bleibt ihr größter Hit. Genau genommen beginnt "Everlong" bereits zuvor beim von samtweich bis todtraurig reichenden Stück "February Stars", und endet im darauffolgenden, über den Wolken fliegenden "Walking After You". Sozusagen ein meisterhaft eingebettetes Juwel.
Die Thematik Furcht greift Grohl im abschließenden "New Way Home" noch einmal auf. Hierin untermauert er seine Zuversicht, seine Stabilität und sein Verwurzeltsein: »I'm not scared / I pass the boats and the kingdome.« und »I'll never tell you the secrets I'm holding / I love the leash that holds me when I try to run away.«. Grohl hat seinen persönlichen Weg gefunden mit der Vergangenheit umzugehen. Und damit schließt er eigentherapeutisch nicht nur ein Lebenskapitel und öffnet ein neues. Ihm gelingt es auch, mit einem fetten infernalischen Grinsen auf dem Gesicht eine mustergültige Arschbombe hinzulegen. Er und seine Kompagnons kreieren ihre eigene handwerkliche Kunst und lösen sich endgültig von der Schwerfälligkeit des Grunge. Dieses wegweisende Werk ist nicht weniger als der Abklang einer Musikepoche und die Ouvertüre einer neuen Ära, die Staffelübergabe von der damals erwachsengewordenen Generation X an die Generation Y.
Fazit: Nach 16 Jahren gleicht "The Colour & The Shape" noch immer einem tonalen Dauer-Feuerwerk, das Urgewaltiges mit Modernem verschmelzen lässt, das auf zauberhafte Weise Harmonien mit vermeintlichen Disharmonien verbindet. Ausgewogen oszilliert diese Scheibe zwischen archaischer Brachialgewalt und herzerweichenden Balladen. Jede verdammte Millisekunde auf dieser Platte ist so unfassbar klar austariert. Hier passt einfach alles ineinander: Jeder Beat, jede Note und jede Pause. Auch die Reihenfolge der Lieder ist perfekt ausgelotet und funktioniert nur so. Auf dieser Scheibe ist jeder Stil vertreten, den Grohl liebt: Vom leise trippelnden Schlaflied über beschwingten Säuselpop bis hin zum düsenjethaften Megafön - und daraus entstand eine unendlich leidenschaftliche Farbenglut. Damit haben Dave Grohl (Gesang, Gitarre, Drums), Pat Smear (Gitarre), Nate Mendel (Bass) und William Goldsmith (Drums) einen mit eingängigen Melodien durchfluteten Alternative Rock-Diamant geschliffen: Knallhart, beständig und bei Licht wunderschön in allen Farben funkelnd.
Hinweis: Diese Rezension befasst sich mit dem 1997 erschienenen Album, dessen Spielzeit rund 45 Minuten beträgt. Die Jubiläumsausgabe von 2007 zum zehnten Geburtstag beinhaltet weitere 26 Minuten in Form von sechs Bonus-Tracks. Dabei handelt es sich zur Hälfte um Coverversionen ("Requiem" von Killing Joke, "Down In The Park" von Gary Numan und "Baker Street" von
Gerry Rafferty) sowie um den Japan-Track "Drive Me Wild" und die UK-Songs "Dear Lover" und "The Colour And The Shape" - der Titeltrack, der kurioserweise nicht auf der 97er-Version enthalten ist.
Line-up:
Dave Grohl (vocals, guitar, drums)
Pat Smear (guitar)
Nate Mendel (bass)
William Goldsmith (drums - #1,#6)
Lance Bangs, Chris Bilheimer, Ryan Boesch (handclaps - #8)
Tracklist
01:Doll
02:Monkey Wrench
03:Hey, Johnny Park!
04:My Poor Brain
05:Wind Up
06:Up In Arms
07:My Hero
08:See You
09:Enough Space
10:February Stars
11:Everlong
12:Walking After You
13:New Way Home
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