Endlich wieder eine akustische Begegnung mit einer der musikalischsten Prog-Bands der 70er. Als dieses erste Gentle Giant-Album 1970 das Licht der Welt erblickte, horchte die Fachpresse auf und damit auch viele Rockfans, aber gemessen an der Klasse des »Sanftmütigen Giganten« war dieser Formation auch in den folgenden Jahren kein rechter kommerzieller Erfolg vergönnt, obwohl die Band ihren hohen Standard aus Spieltechnik und Kompostition ohne Mühe halten konnte.
Dieser Stilmix aus keltischem Folk, Blues, Pop, Hardrock, etwas (Free-) Jazz und dissonanter Klassik war nie im Vorübergehen zu genießen. Wer sich darauf einläßt, wird mit machtvollen Klangcollagen konfrontiert, denen man entweder intensiv zuhört oder sich sofort überfordert fühlt. Wobei es seltsamerweise den damals auf der selben Weide grasenden King Crimson durchaus gelang, überdurchschnittlich viele LP-Einheiten abzusetzen.
Gentle Giant waren indes nicht ganz so abgedreht wie Robert Fripp und seine Mannen; sie hatten auch sehr melodische Hardrock-Muster im Programm. Am anderen Ende des Koordinatensystems standen dann Yes der Prä-"Yes Album"-Ära und sicherlich kann man sagen, dass Gentle Giant auch den Wegweiser für die frühen Genesis in die Erde gerammt haben.
Die von den drei Shulman-Brüdern gegründete Band überzeugte durch die sichere Behandlung einer Vielzahl von Instrumenten, die weit über das gängige Equipment von Gitarre, Bass, Keyboards und Schlagzeug hinausgehen. So hört man u.a. Cello, Violine, Saxophon, Vibraphon, Flöte, Klavier, Trompete und Tenorhorn, selbst das von klassischen Komponisten gerne eingesetze Glockenspiel findet im Klanguniversum von Gentle Giant wie selbstverständlich seine Berechtigung.
Entsprechend komplex sind dann auch die Songstrukturen. Ganz geschickt werden hier Akkorde und Tempi variiert und als Sahnehäubchen der mehrstimmige Gesang darübergelegt. Schneidende Gitarren unterbrechen die manchmal geradezu mittelalterlich anmutenden Klänge so jäh, dass der Hörer ruckzuck aus der Kuschelecke herauskatapultiert wird (besonders deutlich auf "Funny Ways") - einem gemütlichen Dahinplätschern wird auf diesem Album nie eine Chance gegeben und das ist auch gut so. Die ganze Platte ist unterhaltsam wie ein spannender Thriller.
So überzeugt das mit über neun Minuten Spieldauer als Magnum Opus der Platte angelegte "Nothing At All" mit einer stilistischen Bandbreite, die neben Folk und Hardrock mit saftiger Gitarrenarbeit auch ein (durch den Phaser verzerrtes) Schlagzeugsolo enthält, in dessen letztem Abschnitt ein wie von Geisterhand geführtes Klavier in Rondoform brilliert, mit einem Mozart-Zitat als Ausgangspunkt, das dann zu Free Jazz Strukturen übergeht. Direkt danach lassen es Gentle Giant in "Why Not?" so richtig krachen, mit kraftvollem Unterbau und geilen Gitarrensoli all over.
Die Platte wird von "The Queen" beendet, eine über einminütige Abhandlung der englischen Nationalhyme "God save the Queen" in echter Progrock-Manier. Ob die Queen »amused« war, entzieht sich meiner Kenntnis...ich jedenfalls war bzw. bin es immer noch. Festzustellen bleibt, dass auf dieser Produktion kein (!) Song durchhängt oder als Füller erkennbar wäre. Stilistisch nicht immer einheitlich, aber das war im Konzept mit seiner Vielfalt an Ideen und dem fast unvergleichlichen Variationsvermögen auch nie vorgesehen.
Gentle Giant - ein maßgeblicher Einfluß, obwohl selbst in der Versenkung verschwunden. Ein Statement in Originalität und musikalischer Qualität, das bis heute anerkennend bewundert wird und das vom Produzenten Tony Visconti mit Herzblut betreut wurde. Und es brauchte auch einen solchen gewieften Producer, all diese Klänge zu sortieren und zu kanalisieren. Sein Mixdown aller von den Mikros eingefangenen Töne kann man nur als perfekt bezeichnen und transformierten das Album zu einem Kunstwerk.
Die CD gab bzw. gibt es in mehreren Auflagen. Diese hier vom Repertoire-Label überzeugt in vielerlei Hinsicht. So ist sie als Digi-Sleeve ausgelegt, d.h. das Cover der CD wurde komplett der damaligen LP nachempfunden. Das ist auch sehr schön geworden, ich besitze ja noch meine Original-LP und es ist tatsächlich eine auf CD-Maße geschrumpfte Abbildung. Wenn man sie aufklappt und neben der LP sieht... irgendwie putzig. Selbstverständlich ist innen auch der lustige Text über den »Giant« abgedruckt, aber im Gegensatz zur LP muss man in meinem Alter froh sein, eine Brille zu haben...
Auf der Gentle Giant Website schreibt jemand, dass ihn der Klang von Repertoire nicht zufriedenstellt. Das kann ich nun absolut nicht nachvollziehen, denn das Klangbild ist sehr durchsichtig, mit fettem Bass wo er hingehört und unverfälscht im Mitteltonbereich. Die Höhen mögen hier und da etwas spitz sein, aber mehr konnte man aus den uralten Mastertapes nicht herausholen, dessen bin ich sicher und da es auch im Gegensatz zur LP keinerlei Rauschen gibt, behaupte ich deshalb: Wieder mal eine - wie auch nicht anders erwartete - Spitzenleistung von Eroc als Remastering-Guru.
Vorsicht ist noch geboten, denn dieses Debüt wurde im nordamerikanischen Raum nicht veröffentlicht. Das Cover dieser Platte ziert dort die dritte LP "Three Friends", jedoch mit der Schrift zentriert am oberen Rand. Die ist auch als CD erhältlich, aber es ist natürlich ein ganz anderes, wenn auch hervorragendes Werk. Platten sollte man grundsätzlich nicht nur nach dem Bild der Verpackung bestellen...in diesem Fall gilt das wegen des selben Hauptmotivs verschiedener Platten besonders.
Kein Licht ohne Schatten - warum wurde diese CD mit nur den ursprünglichen knapp 37 Minuten Spieldauer veröffentlicht? Verschenkter Platz, den man besser für Bonustracks genutzt hätte. Ich bin mir aber bewußt, dass es auch Leute gibt, denen eine Originalüberspielung heilig ist und die den Mehrwert in Form von zusätzlichen Songs als Frevel empfinden. Aber die könnten ja nach Track 7 die Stop-Taste drücken, oder? Ich denke, hier wäre mehr machbar gewesen und Material aus dieser Zeit gibt es von Gentle Giant sicher genug.
Ganz besonders möchte ich allen Interessenten dieser Band auch noch die Doppel-LP "Playing the Fool" von 1977 empfehlen, die natürlich auch mit Klasse-Songs aus der Zeit nach dem Debüt gespickt ist. Auf dieser Live-Platte zeigte Gentle Giant, wie man eine solche vielschichtige Musik in atemberaubender Sicherheit auch auf der Bühne spielen kann. Die gute Nachricht ist, dass es diese Platte als Doppel-CD mit dem späteren (mehr rockig kompromissbehafteten) Werk "Civilian" gekoppelt unter 20 € gibt.
Line-up:
Derek Shulman (voc., bass)
Ray Shulman (bass, violin, guitar, voc., perc.)
Phil Shulman (sax., trumpet, recorder, voc.)
Kerry Minnear (keys, bass, cello, voc., perc.)
Gary Green (lead guit., 12 string guit.)
Martin Smith (drums, perc.)
Gäste:
Claire Denis (cello)
Paul Cosh (tenor horn)
Tracklist |
01:Giant (6:21)
02:Funny Ways (4:19)
03:Alucard (6:00)
04:Isn't It Quiet And Cold? (3:35)
05:Nothing At All (9:06)
06:Why Not? (5:30)
07:The Queen (1:26)
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