Green Day / Nimrod
Nimrod Spielzeit: 49:09
Medium: CD
Label: Reprise Records/Time Warner, 1997
Stil: Pop Punk


Review vom 07.02.2013


René Francke
1998 war mein Jahr. Ich war damals 17 und erlebte die unbeschwerteste und wunderbar chaotischste Zeit in meinem Teenagerdasein mit scheinbar allen Freiheiten dieser Welt. Und zu dieser Zeit gehörte auch mein persönlicher Soundtrack: "Nimrod" von Green Day.
Nach ihrer im Frühjahr 1996 abgebrochenen Welttournee zum rauen und düster-reaktionären Album "Insomniac" begaben sich Billie Joe Armstrong, Mike Dirnt (Michael Ryan Pritchard) und Tré Cool (Frank Edwin Wright III.) trotz offiziell bekundeter »völliger Erschöpfung« direkt wieder ins Studio für neue Aufnahmen, die im Ende 1997 veröffentlichten "Nimrod" (engl.: Idiot) mündeten. Neben der beleidigenden Bedeutung im amerikanischen Englisch verbirgt sich hinter dem Namen Nimrod außerdem eine biblische Gestalt, die im Alten Testament als Herrscher Babylons und als leidenschaftlicher Jäger beschrieben wird. Diese Figur hatten Green Day bei der Namensfindung aber wohl eher nicht im Sinn…
Aus ursprünglich 30 geschriebenen Songs wurden letztendlich 18 für das neue Album ausgewählt - und die haben es wahrhaftig in sich! Während der Aufnahmen war der Band sehr schnell klar, dass sie sich von dem traditionellen Drei-Akkord-Strickmuster ihrer bisherigen Alben weg- und zu einer experimentierfreudigeren Entfaltung ihrer künstlerischen Ansprüche hinbewegen wollte. Frontmann Armstrong bezeichnete "Nimrod" später als die Platte, die er schon immer machen wollte, seitdem es die Band gab. Oder anders ausgedrückt: "Nimrod" ist Green Days abwechslungsreichstes und ausgewogenstes Album - bis heute. Das Cover ziert Porträts der US-Präsidenten Dwight Eisenhower und Harry Truman, deren Gesichter mit einem gelben "nimrod"-Sticker abgeklebt sind - ein satirisch-sarkastisches Statement der Band, das viel über ihre Haltung und Erfahrungen zu jener Zeit ausdrückt und einen visuellen Vorgeschmack auf den akustischen Inhalt der CD gibt.
Samt und sonders hört man der Scheibe "Nimrod" und der auf ihr musizierenden Drei-Mann-Combo aus Kalifornien an, wie unbeschwert die Studiozeit gewesen sein muss. Von jeglichen Erwartungen und äußerem Druck entledigt, schießen die Bay Area-Jungs hier ein innovatives, souveränes und vielfältiges Hitfeuerwerk ab, das einem vom ersten Ton an die Ohren schlackern lässt. Das liegt zum einen an der breiten Palette eingesetzter Musikinstrumente (außer der Standardformation Gitarre-Bass-Schlagzeug hört man Geigen, Bläser, Streicher, Mundharmonika) und den verschiedenen Musikströmungen, die mit eingeflossen sind: Diese Platte enthält neben dem für Green Day charakteristischen Pop Punk u. a. auch Elemente aus dem Folkrock, Rockabilly, Surfrock, Ska, Hardcore und Metal. Einflüsse von The Byrds, Elvis Costello, The Stray Cats, The Clash und The Beatles sind unüberhörbar. All dies wurde mit den markanten und erbarmungslos in den Gehörgängen verhaftenden Melodien gewürzt, die den Green Day-Sound seit jeher so unverwechselbar und erfolgreich machen - dank Armstrongs Talent als Tonsetzer und Sänger. Zum anderen erkennt man in den Lyrics einen gehörigen Reifeprozess gegenüber den Vorgängeralben, wo es noch vorwiegend um Drogenerfahrungen, Langeweile, das Erwachsenwerden und andere Teenagerthemen ging. So haben die Texte auf "Nimrod" mehr Tiefgang und sind geprägt von Selbstreflektion, Zerrissenheit, Abscheu und Liebe, und handeln u. a. von Beziehungsproblemen und typischen Begleiterscheinungen des Eltern- und Stardaseins. Und obendrein singt Armstrong auf dem kompletten Album so aufrichtig und überzeugend, dass man ihm jede einzelne Silbe ohne Wenn und Aber abkauft.
Der Ohrwurmreigen wird wuchtig eingeläutet mit einem maschinengewehrartigen Schlagzeugintro des Gute-Laune-Fegers "Nice Guys Finish Last", in dem die Band ihre Erfahrungen mit sogenannten Beratern, Managern und sonstigen schmierigen Typen überaus ironisch verarbeitet, die alle ganz genau zu wissen scheinen, was für die Band am besten wäre. Es folgt der Rockabilly-Rammklotz "Hitchin' A Ride", in dem Armstrong seine Alkoholsucht thematisiert und die Schwierigkeit, nüchtern zu bleiben. Diese erste Singleauskopplung beginnt mit einer orientalisch angehauchten Geigenfigur (gespielt von Petra Haden von That Dog) und findet ihren Höhepunkt in einem wildgewordenen Harakiri-Gitarrensolo. Was für ein Opening!
Das darauffolgende Stück "The Grouch" ist ein Punkrock-Song wie er im Buche steht: drei, maximal vier Akkorde, die in einem Affentempo herunter geschrammelt werden, dazu ein schnoddriger 'Fuck You'-Text, der eine klar fatalistische Abrechnung an nichts weniger als die gesamte Welt ist: »The world owes me so fuck you« lautet Armstrongs Quintessenz und schildert nach eigener Aussage seine Ängste, sein Leben zu verschwenden, fett und impotent zu werden und seine Ideale zu verlieren.
Bereits nach diesen ersten drei Songs könnte ich selbst heute noch vor Freude heulen ob dieses klangvollen Großfestes. Doch dies war erst der Anfang. Was nun folgt, sind die sowohl musikalisch als auch textlich vielleicht schönsten Pop Punk-Songs, die Green Day je geschrieben haben: zunächst das herrlich melancholische "Redundant" mit seinen dahinwalzenden Gitarrenklängen, das von der desillusionierenden Routine und den übermäßig verwendeten Liebesschwüren in einer festgefahrenen Beziehung handelt; dann das wunderbar herbei stürmende "Scattered", in dem sich der Sänger nostalgisch einer alten vergangenen Liebe erinnert und diese gerne wieder aufleben lassen würde; anschließend der Rock-Stampfer "All The Time", der, wie schon "Hitchin' A Ride", über das Trinken schwadroniert und mit einer Reihe von Trinksprüchen gespickt ist - letztendlich erkennt Armstrong, dass ihn seine Alkoholsucht ins Verderben führen wird, wenn er nicht vom Fusel loskommt; und schließlich das zwar vergnüglich beschwingt klingende "Worry Rock", das allerdings textlich wie bereits "Redundant" den Stillstand in einer Beziehung thematisiert und die Ohnmacht darüber zu entscheiden, ob man zusammen bleibt oder sich trennt.
Menschen mit Herzproblemen sollten den nun folgenden Song besser niemals anhören - schade wär's allerdings. Bei einem halsbrecherischem Tempo von unfassbaren 369 Bpm (!) wird man so gut wie ins Jenseits katapultiert: "Platypus (I Hate You)", die mit großem Abstand fieseste, stürmischste und bis zur Oberlippe mit Hass vollgepackte Hardcore Punk-Keule, die Green Day bis dato geschwungen haben, prügelt derart gewaltig und ungezügelt auf den Hörer ein, dass einem anschließend wie nach einem exzessiven Vollrausch mächtig die Birne schwirrt. Im Booklet sind zu diesem Song die Lyrics komplett geschwärzt. Armstrong twitterte Anfang 2011: »Platypus was written for tim yohanon. And i prey to god I misspelled his name. Rest in shit you fucking cunt«. Zur Erläuterung: Tim Yohannan war u. a. einer der Gründer des legendären Punkclubs 924 Gilman Street im kalifornischen Berkeley, in dem Armstrong, Dirnt und Cool sich selbst sowie ein zweites Zuhause fanden und als Band ihre ersten Live-Auftritte hatten. Nach ihrem großen Durchbruch 1993 wurden Green Day als frischgebackene Major-Label-Band aus der Gilman Street verbannt. Yohannan, der angeblich Hardcore Punk nicht ausstehen konnte, ließ sich öffentlich überaus abfällig und höhnisch über Green Days Musik und Erfolg aus und sagte, sie seien »nicht punkig genug«. "Platypus (I Hate You)" ist Green Days unmissverständliche Reaktion darauf.
Der nachfolgenden Hoffnungslosigkeitshymne "Uptight" steckt der Herzkasper des Vorgängerstücks noch hörbar in den Knochen, was dem Song allerdings eine unwiderstehliche Ausstrahlung verleiht und ihm thematisch sehr zugute kommt. Daraufhin schaltet die Band vorübergehend drei Gänge herunter und lässt den Hörer beim Surf Rock-Schmachtfetzen "Last Ride In" verschnaufen - einem vermutlich unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen entstandenen Instrumentalsong. Dieses Stück lässt bereits die musikalischen Ambitionen späterer Werke des Punktrios erahnen. Doch bevor man in allzu entfernte Geisteszustände entschlummert, ziehen die Jungs noch einmal alles hoch, was zwischen Pförtner und Gurgel Platz genommen hat: Kläffend und wie von der Tarantel gestochen wird "Jinx" angezählt und mit einer Begeisterung heruntergeholzt, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Selbstironisch wird die Geschichte von einem Menschen erzählt, der glaubt verhext zu sein und aus diesem Grund alles um sich herum mit ins Verderben stürzt. Dieses Lied geht ohne Pause direkt in "Haushinka" über, einem Stück, das wie "Good Riddance (Time Of Your Life)" noch aus der "Kerplunk"-Zeit (1992) stammte und sich um die Gefühle für ein Mädchen dreht und das Bedauern über die vertane Chance, sie nicht näher kennengelernt zu haben.
"Walking Alone" ist der freche Enkel von "Love Me Do" der Beatles. Mit Mundharmonika bewaffnet und einem zuckersüßen zweistimmigen Refrain am Ende des Songs grübelt Armstrong über die Fehler, die er Freunden aus Kindheitstagen gegenüber gemacht hat und stellt resigniert fest, diese vergrault zu haben und nun alleine dazustehen.
Die Wutnummer "Reject" geht auf einen Fanbrief zurück, in dem sich die Mutter eines kleinen Jungen über Armstrongs Wortwahl und Tonfall auf "Insomniac" echauffiert, woraufhin Green Day ihr und all den amerikanischen Moralaposteln schonungslos diesen musikalischen Stinkefinger entgegenstrecken. Sarkastisch nimmt Armstrong einen Ausdruck der Mutter wieder auf und betitelt sich selbst als »reject all-American«. Ohne Umschweife folgt "Take Back", ein entzückender, nach modrigem Keller riechender Metalrotzer, in dem Armstrong schwört, sich seine Würde zurückzuholen, wobei sein gutturales Death Metal-Screamo-Geraunze fast schon wieder melodiös klingt - der Barde kann einfach nicht anders. Für den Ska-Kracher "King For A Day", der auf jedem Green Day-Konzert zu einer aberwitzigen Travestieshow ausgeweitet und mit dem Call-and-Response-Tanztornado "Shout" der Isley Brothers verwoben wird, holten sich Green Day die Bläserfraktion Gabrial McNair und Stephen Bradley von No Doubts Live-Line-up mit ins Boot.
Den Abschluss des Albums bilden zwei weitere grandiose Gassenhauer: Ihr wohl bis heute bekanntester Hit "Good Riddance (Time Of Your Life)" und das swingende Rockungetüm "Prosthetic Head". Ersterer strahlt aus dem Hitpool dieser Platte noch einmal besonders hervor. "Good Riddance (Time Of Your Life)" wurde u. a. 1998 im Serienfinale der Sitcom "Seinfeld" verwendet und erreichte dabei etwa 100 Millionen Zuschauer. Mittlerweile darf er auf keiner Hochzeit zwischen Kasachstan und Kalifornien mehr fehlen. Paradoxerweise sind an der Entstehung dieses Stückes nur Armstrong und Produzent Rob Cavallo beteiligt gewesen, also kein wirkliches Green Day-Gemeinschaftsprodukt - ähnlich wie der Evergreen "Yesterday" der Beatles. Cavallo gelang durch das Hinzufügen von simplen Streicherbestandteilen der große Wurf als musikalischer Meisterkoch. Im Text kann jeder seine eigene Interpretation finden; Armstrong selbst inspirierte das unausweichliche Ende seiner Beziehung zu einer Frau, die sich 1990 dem Friedenskorps anschloss. Die gleiche Frau steht auch in den Songs "She" ("Dookie", 1994) und "She's A Rebel" ("American Idiot", 2004) im Mittelpunkt. In "Prosthetic Head" rechnet Armstrong mit jenen Menschen ab, die alles für ein scheinbar perfektes Äußeres tun - von den neuesten Modetrends bis hin zu Schönheits-OPs - und dabei ihr wahres Ich und ihren Stolz aufgeben. Dieser Song kulminiert in einem furiosen Powerchord-Gestampfe, das dem Album die perfekte Abrundung verleiht und mich ob dieses fast einstündigen Melodiegemetzels seelisch glücklich und liebestrunken zurücklässt.
Im zeitlichen Kontext betrachtet ist "Nimrod" das Bindeglied zwischen der jugendlichen Unbekümmertheit und druckvollen Spielfreude von "Dookie" auf der einen und den ausgefeilt arrangierten und textlich ausgereiften Punk Rock-Operetten "American Idiot" bzw. "21st Century Breakdown" (2009) auf der anderen Seite. Selbst mehr als 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat dieses musikalische Juwel nichts von seiner Energie, Wucht und Eingängigkeit verloren. Zugegeben: Man kann diese Band lieben oder hassen, aber selbst diejenigen, die sich normalerweise nicht mit der Musik und den einfachen Songstrukturen von Green Day anfreunden können, werden diesem Album etwas abgewinnen, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn es nur die Lagerfeuer-Ballade "Good Riddance (Time Of Your Life)" ist. Bassist Mike Dirnt sagte hierzu einmal: »This is a real beautiful song, who cares what people think? So we just went for it. Long term thinking, you know? Punk is not just the sound, the music. Punk is a lifestyle. We're just as much punk as we used to be. Putting this song on the record was the most 'punk' thing we could do!«
Line-up:
Billie Joe Armstrong (vocals, guitar, harmonica)
Mike Dirnt (bass, vocals, baseball bat)
Tré Cool (drums, bongos, percussion)

Gabrial McNair (horns - #16)
Stephen Bradley (horns - #16)
Petra Haden (violin - #02)
Tracklist
01:Nice Guys Finish Last (2:49)
02:Hitchin' A Ride (2:51)
03:The Grouch (2:12)
04:Redundant (3:17)
05:Scattered (3:02)
06:All The Time (2:10)
07:Worry Rock (2:27)
08:Platypus (I Hate You) (2:21)
09:Uptight (3:04)
10:Last Ride In (3:47)
11:Jinx (2:12)
12:Haushinka (3:25)
13:Walking Alone (2:45)
14:Reject (2:05)
15:Take Back (1:09)
16:King For A Day (3:13)
17:Good Riddance (Time Of Your Life) (2:34)
18:Prosthetic Head (3:38)
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