Jon Dee Graham / Full
Full
"Full" ist meine Lieblings-CD der letzten Wochen und zählt für mich zu den stärksten Veröffentlichungen des ersten Halbjahres 2006.
Jon Dee Grahams fünftes Solo-Album sorgt für Gänsehautmomente ohne Ende, zwölf Songs in unterschiedlichen Stimmungslagen, die mir eine Gefühlswallung nach der anderen bescheren. Selbst wenn die Disc nur nebenbei läuft, packt mich immer wieder diese außergewöhnliche, raue Stimme.
Kollege Manni hat den Texaner längst für die RockTimes-Leser entdeckt und mich dankenswerterweise auch mit Vorgängeralben versorgt, die meine Begeisterung für den Mann nur verstärkt haben. JDG ist einer der ganz Großen aus der Americana-Szene und deren Mittelpunkt Austin/Texas, ein Sänger und Gitarrist der Extraklasse, den ich jedem Rockfan jenseits der Drei-Akkord-Dampfhammer-Fraktion nur ans Ohr legen kann. Die Auszeichnung zum 'Musiker des Jahres' bei der diesjährigen South By Southwest Music Conference (eine seiner vielen) unterstreicht das nachhaltig.
"Full" entstand mit den bewährten Kollegen Mike Hardwick (Gitarre), Andrew Duplantis (Bass - Son Volt) und John Chipman (Schlagzeug, ebenso wie JDG parallel bei The Resentments). Weiterhin sind im Line Up Jud Newcomb, Bruce Huges - ebenfalls The Resentments), die im PR-Text als Gäste ohne Nennung ihres Jobs gelistet sind. Ebenso Mike Stewart, der auch für den knackigen Sound als Produzent verantwortlich zeichnete. Eine bestens harmonierende Truppe, die das Album in gerade mal drei Tagen im Januar 2006 eingespielt hat. Das zeigt auch deren Professionalität und Versiertheit. Das Dutzend Songs stammt komplett aus der Feder von JDG, der authentisch und oft autobiografisch seine emotionalen Stories erzählt.
"Jubilee" - schönster spätsechziger Pop zum Auftakt, der nicht nur wegen des "Turn, Turn, Turn"-Chors an die Byrds oder Love Affair erinnert. Aber mit dem rockigen Kick für Heute. Dass mit "Swept Away" gleich ein Schleicher, ach was, eine Nummer zum Träumen folgt, zeigt, dass sich der Mann mit den großen Gefühlen einen Dreck um Plattenstrategien kümmert. Ein Song, sich als Nichtraucher mit einer Nelkenzigarette unter den Sternenhimmel zu hocken und an das Nirvana zu glauben.
Beim straight rockenden "Something Wonderful" lassen dann Deeham & Co die Gitarren psychedelisch in außerirdischen Regionen scheppern.
Wie eine Liebeserklärung an eine wunderbare Stadt heutzutage ohne Schmalz klingen kann, zeigt JDG mit "Amsterdam", ein Folkrocker, bei dem die Keyboards die Schrammelklampfen untermalen. Ein klassischer Lovesong ist "Dearest One", die sehnsuchtsvolle Reibeisenstimme nur von der Akustischen begleitet. In die letzten zarten Töne kracht dann "Holes", der eigentliche Titeltrack, mit gleich zwei fetten Slides. Ein "You Ain't See Nothin' Yet"-Brett eröffnet "Bonaparte", es rifft, dass es nur so staubt.
Wenn eine Mieze bei "Rosewood" nicht feucht wird, dann kann sie eigentlich nur stocktaub, völlig gefühllos, vom anderen Ufer oder Naabtal Duo-Fan sein. Eher alles zusammen. Dafür sollten bei "WCD" alle Sassern-Rocker das Rotztuch bereithalten: »Nichts ist für immer und wir waren jung...«, dazu einen Gitarre, mächtig und blue wie der Colorado River. Nicht nur die Stimmen, auch die Seelen sind wohl verwandt: "Tie A Knot" - Tom Waits (meets Gov't Mule) lässt grüßen. Zum Ausklang bringt der Mann noch einmal die Steine zum Weinen: "Remain" und "Beloved Garden" - tiefe Emotionen ohne Sentimentalität, einfach nur stark.
Dass JDG wohl ein etwas skurriler Typ ist, schließe ich auch aus der Covergestaltung. Was allerdings der gerupfte Teddy und die Krakelschrift bedeuten sollen, wird mir nicht klar.
Mit "Full" hat das deutsche Label einen Volltreffer gelandet! Dafür, dass dem Digipack nur Minimalinformationen und keine Texte beigefügt wurden, gehört der Verantwortliche bei Blue Rose aber barfuss durch die Wüste gejagt. Wer versteht schon einen Texaner?
Ende November kommt Jon Dee Graham mit den Resentments (s.o.) auf Deutschland-Trip, nachzulesen unter den Tourneeterminen. Vorher soll noch eine neue CD der Austin-Allstar-Truppe herauskommen, über die wir natürlich auch in Rocktimes berichten werden.


Spielzeit: 46:21, Medium: CD, Blue Rose Records, 2006, Americana
1:Jubilee (3:16) 2:Swept Away (3:44) 3:Something Wonderful (3:35) 4:Amsterdam (2:56) 5:O Dearest One (3:05) 6:Holes (4:40) 7:Bonaparte (3:48) 8:Rosewood (3:43) 9:WCD (3:47) 10:Tie A Knot (4:56) 11:Remain (3:51) 12:Beloved Garden (4:40)
Norbert Neugebauer, 13.08.2006