Rock meets Electronica!
Eigentlich sollte ja kein Rezensent als Einstieg sofort mit der Tür ins Haus fallen.
Aber angesichts einer Scheibe, die den unzweideutig eindeutigen Titel "Rockonica" trägt, bleibt doch letztlich nur eine Hauptfrage: Führt der Titel in die Irre oder ist er Programm?
Nun, mein einleitendes Statement besagt zweifelsfrei, dass letzteres der Fall ist!
Nur muss ich mich dahingehend outen, dass ich in meinem bisherigen und auch zukünftigen Musikinteressentenleben nie ein Freund der Elektronik in der Musik war und vermutlich nie sein werde. Mensch möge mich dafür als hoffnungslosen Ignoranten hinstellen, Schmalspurhörer oder Ewigvorgestrigen!
Aber ich stehe zu meinen Vorlieben, und das bedeutet möglichst "live-in-the-studio" - Aufnahmen ohne Netz und doppelten Boden, mit Menschen an ihren Instrumenten, die selbige möglichst virtuos und miteinander groovend erklingen lassen! Dann darf gerockt, gerollt, gebluest und was weiß ich werden, Hauptsache der Luftgitarrist in mir wird angestachelt, an die mittlerweile nicht mehr kindliche Oberfläche gespült zu werden!
Und was macht da ein mir bis dato vollkommen Unbekannter namens Reeves Gabrels auf seinem Debüt für Steve Vais aufstrebendes Label Favored Nations?
Im Sinne des eben angeführten quasi alles falsch, was nur falsch gemacht werden kann!
Von einem "live-in-the-studio" - Sound kann mitnichten die Rede sein, teilweise konkurrieren in einem einzigen Song lead guitar, rhythm guitar, pedal steel guitar, acoustic guitar, slide guitar und wah-wah guitar (Hendrix lässt grüßen!) knallhart um die Wette (fast alle von Gabrels selbst gespielt!), ergänzt durch Donnerdrums, Percussion, Bass, electric piano, organ usw.! Das ergibt auf meiner hochwertigen und für eher "livehaftige" Aufnahmen spezialisierten Abhöranlage teilweise das reinste Chaos-Inferno, welches mir ungefiltert und -geschönt entgegenkracht. Das ist wirklich nichts für Feingeister und auch nichts für notorische "beerdrinkers and hellraisers" mit Hang zur exzessiven "airguitar"! Hier droht dann im Falle eines Falles fortschreitende und schmerzhafte Fingerverknotung!
Denn Herr Gabrels hat es faustdick hinter den Ohren, äh, Verzeihung, in den flinken Fingern.
Diese Veröffentlichung macht im Kontext der bisherigen Labelpolitik von Favored Nations, wo wir so unterschiedliche Acts wie Steve Vai höchstpersönlich, Neal Schon oder gar die (neuen) Yardbirds bewundern dürfen, absolut Sinn und scheint mir neben dem geglückten Versuch, eine Brücke zwischen Tradition und Moderne zu schlagen, eine gelungene Emanzipation von seinem bisherigen Hauptbrötchengeber zu sein, nämlich niemand geringerem als David Bowie, mit dem er zwischen 1988 (das Tin Machine - Projekt) und 1999 (das "HOURS" - Album) als Co-Songwriter, Gitarrist und teilweise auch als Produzent zusammengearbeitet hat.
Das hinterlässt natürlich Spuren, und auch als Nicht-Kenner des Bowie'schen Musikkosmos und musikalischen Schaffens meine ich deutliche Bezüge, gerade zu den Werken in den 90'ern, herauszuhören. Allerdings stecken auch wesentlich ältere, erdigere rockmusikalische Bezüge in den Kompositionen von Reeves Gabrels.
So steckt im Outro von "Underneath" völlig unerwartet der Blues, "Continue" ist rüpelhaftester Punk, das anschließende (einzige!) Instrumental "13th Hour" offeriert zur dringend benötigten Erholung folkbeeinflusstes und mit einer sehr schönen Melodie versehendes Acoustic Guitar - Picking, "Uphill Both Ways" legt nicht als einziges Stück Zeugnis davon ab, dass der Protagonist auch Hendrix auf seiner musikalischen Menükarte hat und "Long Day" legt gar hymnenhaften (Rock)Charakter an den Tag mit einem gitarristischen Outro, dass mir Hören und Sehen vergeht, aber ein gewisses Staunen bleibt. Bei alledem hält sich der nicht zu überhörende Elektronikanteil in dankenswerten Grenzen, ist kein Mittel zum Selbstzweck, sondern eher komplementär angelegt.
Insofern macht Reeves Gabrels gar nichts falsch, ganz im Gegenteil, er macht verdammt viel richtig und legt ein hochspannendes, vergleichsweise modernes Rockalbum vor. Vielleicht nicht gerade im Hier und Jetzt verortet, sondern produktionstechnisch eher in den 90er Jahren angesiedelt, aber wer mit offenen Ohren herangeht, wird neben Hendrix und Bowie letztlich noch Einflüsse heraushören, die von Lou Reed bis Mott The Hoople reichen, was ja durchaus bei näherer Betrachtung der Musikhistorie Sinn macht, bzw. nicht verwunderlich ist und den Spannungsbogen über die Dauer des ganzen Albums aufrecht hält!
Es bleibt lediglich ein großes Manko, denn Mr. Gabrels ist vokalistisch kein Bowie, Hunter oder Reed. Nicht, dass die Genannten nun zur Spezies der begnadeten
(Rock-)Shouter gehören würden, aber sie haben alle das gewisse vokalistische Charisma, welches sie irgendwo unverwechselbar macht. Dies geht Reeves Gabrels leider ab. Er ist in erster Linie ein Gitarrist/Songwriter/Produzent ohne Limits mit limitierter Stimme, was dem Hörvergnügen zwar schadet, ihm letztlich aber keinen Abbruch tut.
Das Album wird in Deutschland am 18.4.2005 veröffentlicht!
Spielzeit: 57:05, Medium: CD, Favored Nations/Rough Trade, 2005
1. Sign From God [3:17] 2. Leper [4:40] 3. Underneath [7:44] 4. Anywhere (She Is) [10:30]
5. The Conversation [5:16] 6. Continue [4:07] 7. 13th Hour [2:27] 8. Tunnel [5:22] 9. Uphill Both Ways [4:51]
10. Long Day [8:33]
Olaf "Olli" Oetken, 9.4.2005
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