1993 spielte
Warren Haynes für WERS-FM Radio in Boston ein Livekonzert (ohne Publikum) ein, welches nun endlich und nach so langer Zeit in exzellenter Form für uns zur Verfügung gestellt wird. Dass es frühere Bootleg-Aufnahmen hiervon gab, mögen wir getrost vergessen, die Tonqualität ermordete die Faszination dieser unglaublichen Musik. "Birth Of The Mule" ist ein früher Song von
Gov't Mule, der auf dieser Platte nicht vorkommt. Doch wenn die Geburt des Esels im Jahre 1994 vonstatten ging, dann muss dieses Konzert ganz ohne Frage den Zeugungsakt des Maultiers beschreiben – so werden wir also Zeuge eines überaus sinnlichen Augenblicks in der Welt der Rockmusik. Und es war zugleich einer ihrer Höhepunkte, doch der Reihe nach:
Auf dem Gipfel ihrer modernen Schaffensphase hatte die
Allman Brothers Band gerade ihre legendären Sets zu "An Evening With The Allman Brothers" eingespielt und den unzweifelhaften Beleg dafür abgeliefert, dass ein Gitarren-Duo, bestehend aus
Dickey Betts und
Warren Haynes in diesem Universum wohl kaum mehr zu toppen sein wird, als eben jener
Warren sich entschloss, aus den kulturellen Wurzeln der
Allmans einen bluesig rockigeren Ableger zu kreieren, den die Welt heute als
Gov't Mule und die wohl beste Liveband des Planeten feiert.
Ich hatte das großartige Glück, dem Meister in den letzten sechs Jahren vierzehn mal auf die Finger schauen zu dürfen und verehre ihn wie keinen anderen in der Welt. Doch wer die Souveränität, die Abgeklärtheit und tiefe Reflektiertheit der Band heute schätzt, der wird bei dem vorliegenden Album ganz neue Aspekte in
Warrens Geschichte kennen und lieben lernen. Mit dem wilden Rebellentum des gerade mal dreiunddreißig jährigen Rockers und der daraus erwachsenden, nötigen Aggressivität knallte der Meister damals im November 1993 seine Soli mit einer leidenschaftlichen Kraft und elektrisierenden Energie auf die Saiten seiner Gibson, dass es mich bereits beim ersten Reinhören permanent aus dem Sofa heraus riss. Ein solches Vollgas hat
Warren selten gegeben, und das soll bei dem Mann weiß Gott was heißen. Schon damals, ein knappes Jahr vor der Gründung der
Mule war ein kongenialer Musiker dabei, der – komischer Weise – erst Jahre nach dem tragischen Tod von
Allen Woody zur Band stieß, kein Geringerer als unser geliebter Tastenirrwisch
Danny Louis. In der Rhythmusfraktion brillieren
Lincoln Schleifer am Bass und
Steve Holley an den Fellen, fast schon so, als ob der Esel schon damals durch die Steppe traben würde.
Anfangs noch ein wenig mehr dem knallharten Soul verhaftet, so wie wir
Warren in seinem "Man In Motion-Projekt" aus dem Jahre 2010 haben schätzen lernen dürfen, grooven sich diese '50-Prozent-
Mule' in eine heiße Rocksession aus fetzigem Soul, treibendem Beat und alles überragendem Blues, die man aus meiner Sicht nur noch in den genialen Konzerten von
Mitch Ryder aus den späten Siebzigern/frühen Achtzigern wieder findet, hört mal rein bei "Live Talkies".
Blues- und Soul lastige Rockmusik mit viel Gefühl für Rhythmus und ungeheure Steigerungsläufe, cool bis in die letzte Note und voller inspirierender Improvisation. Mule-Spirit eben und gerade wenn Warren sich von allen Kategorien löst, dann umspült uns der Geist der Esels. Man höre nur einmal rein in "The Same Thing" oder das herzzerreißende "Gambler's Roll". Doch bei all der Intensität der unvergleichlich energiegeladenen Soli bewies Warren schon damals, dass er als Sänger kein Deut weniger überzeugt, denn als Gitarrenmann. Ganz im Gegenteil, die tiefe Hingabe und Empatie kommt gerade in Warrens Stimme so authentisch, wie bei keinem anderen herüber. Und wenn er wie in "Blue Radio" aus einem zurückgenommenen Rhythmus heraus in ein geradezu unfassbares Saiten-Crescendo kulminiert, dann treibt es uns Muleheads (und sicher nicht nur uns) ein paar versteckte Tränen in die Augenwinkel und bringt uns in ekstatische Bewegungen, die unsere Orthopäden später behandeln müssen. So ist Warrens Musik vielleicht schlecht für den Knochenbau der Altrocker, aber gut für die Seele. So was von gut.