Elvis lebt. Das ist kein Geheimnis. Aber wo lebt er, wie frühstückt er, was macht er überhaupt, und was hört er für Musik? Schlüsselfragen, die Experten immer wieder zu kontroversen Theorien hinreißen und über jeden Zweifel erhabene Augenzeugen zu den abenteuerlichsten Berichten inspirieren. Elvis' unsterblicher Geist hinterlässt vermutlich in den entlegensten Welt-Ecken seine mitunter verwirrenden, nicht selten äußerst skurrilen Spuren. Ein paar sehr authentische und deutliche Nuancen ließen sich hingegen am Dienstagabend des 8. Juni 2010 im Berliner Tempodrom ausmachen, transformiert in der Erscheinung des bis dato ansehnlichsten und signifikantesten aller Elvis-Spiritisten.
Nach dem durchaus Aufmerksamkeit einfordernden Folk/R'n'B-Support des jungen Hanan, der sich unter den Fittichen von Ikone George Benson bereits erste Sporen in der New Yorker Jazz-Szene verdient hat, trat ein unverschämt gutaussehender Chris Isaak unter ohrenbetäubendem Saiten-Gewitter überpünktlich kurz vor 9 ins Rampenlicht des zwar nicht ganz ausverkauften Tempodroms, dessen Publikum sich allerdings als schnell auftaubare, spannungsgeladene Gangstertruppe der Glücksseligkeit entpuppte. Schließlich war Chris vor einer gefühlten Ewigkeit ... war er überhaupt schon mal in Berlin? ... sinniert der nicht ganz Fachkundige, während Isaak die mit Abstand wichtigsten Angaben zu seiner Person nachdrücklich vervollständigt: "Lonely With A Broken Heart" eröffnet die unterhaltsame zweistündige Vernehmung des fraglos unschuldigen Rockabilly-Delinquenten.
Platz genommen haben die Eingeschworenen zunächst auf den Rängen und in der Manege des Zirkuszelts. Bestuhlung? - Die Vorkehrung, auf die man bei killing Jerry Lee Lewis verzichtet hatte, schien heute angebracht?? Eine Entscheidung, die einer Farce gleicht und die auch unser Modell-Kalifornier nicht lange für gut befinden kann. Er startet einen kurzen, siegessicheren Aufruf, doch etwas näher zu treten und de facto kommt die gesamte Massen-Rock'n'Roll-Gang im weiten Rund der Weisung umgehend nach, als hätte sie nur auf Commander Isaaks dringende Empfehlung gewartet. Was für ein Anblick! Das sei ja hier ein Rock-Konzert, führt der fingerschnippende Eroberer aus, ohne dass eine nähere Erklärung notwendig gewesen wäre. Ab geht die Post und das verwegene, magisch anziehende "Dancing" - ein Werk, das Edwyn Collins bei der Berufsfindung grundsätzlich geholfen haben muss - lockert auf der Stelle die Tanzbeine und Hemmschwellen der verzauberten, fast noch ungläubigen, sehnsuchtsvollen Schar kompromissloser Yesterday-Believers.
Deren Herzen erweicht der liebliche '93er Evergreen "Two Hearts" im Sekundentakt. Dann plötzlich beginnen reihenweise leuchtende Augen schlagartig ihrer elementaren Fähigkeit zu misstrauen ... Nanu? - Was macht er denn jetzt?! "Love Me Tender" schmeichelt ' Chrissy-Boy' den ultimativen Elvis dahin und stellt sich allen Ernstes geradewegs und kühnen Mutes dem weiblichen Fan-Gericht mitten in der Zuschauermenge. Geduldig charmant lässt er die unvermeidlichen Urteilsverkündungen der erregten Damen über sich ergehen, ergibt sich herzlich würgenden Umarmungen und witzelt dabei in Richtung Drum-Leader: »Kenney, I'm not comin' back. I like german food, I like german people, I live here now!« Und schiebt erläuternd hinterher: »When you live in the tourbus with 17 men you begin to think in very strange ways ... « Aus den schönsten Träumen der weiblichen Schwärme zerrt das unerwartet zerfetzende Outro diesen Presley-Klassiker. -
Schluss mit dem vielfach belächelten Soft-Pop-Image! Chris Isaak knallt ein derart glashartes, spektakuläres Rock'n'Roll'n'Surf'n'Blues'n'Swing'n'BigBand'n'Soul-Programm auf den Tisch, dass die Anwälte der Gegenseite wortlos kapitulierend den Verhandlungsraum verlassen. Das macht der glitzernde Tuesday-Night-Star nicht allein. Die Roadies hatten - man lese und staune - z-w-e-i Drum-Kits (Gruß an Hart und Kreutzmann) auf die Bühne zu schleppen. Organisator Scotty tanzt zwischen den brennenden Tasten seines tonnenschweren Teufelsinstruments fast forward und way back in High-Speed. Nicht unerwähnt bleiben darf Hershel Yatovitz, der das Griffbrett samt Isaak-songtypischer String-Sustains beherrscht, wie Chris die Verführung ins Himmelreich, und zudem in sympathischer Gelassenheit die freundlich-beißenden Scherze seines Arbeitgebers ertrug. Pures Entzücken rufen die choreografischen Einlagen der Silvertones hervor, besonders, wenn Schlagzeug-Herrscher Kenney gar sein Reich verlässt, das Ensemble komplettiert und den synchronisierten Ausfallschritten des Bass- und Leadgitarristen auf dem buchstäblichen Fuße folgt.
Weg mit dem klebrigen Schmusesänger-Etikett! Es ist glatter Schwindel. Das schmachtende Timbre selbstverständlich bis zur Vollendung auskostend, den anbetungswürdigen 'Voice-over'-Effekt hinein in die atemberaubenden Kopfstimm-Bögen natürlich ebenso gnadenlos ausspielend, beweist Isaak darüber hinaus aber, dass aus ihm sehr wohl der Rocker shoutet, der Blueser growlt, der Soulman ächzt, der Frankie croont und Ooby Dooby- Roy faucht. Er skizziert Chuck Berrys legendären Duck Walk, Elvis' visionären Breakdance samt Swinging Hips und Knee Rolls in der athletisch-lässigen Überlegenheit eines Vollblut-Stage-Allrounders.
Und weg mit dem Sad-Sad-Surfboy-Stempel! Blue-eyed Chris reißt im wahrhaft betörenden Ausdruck seiner regungslos versteinerten Miene einen Killer-Gag nach dem anderen von der Leine, überzieht alle gängigen Klischees mit Zuckerguss, kokettiert mit seinem feuerroten, gold-flambierten, herrlich übertriebenen Showstar-Anzug und seinem ewiglich anhängenden 'Why-do-wymen-keep-leavin- Chris'-Lamento so treffsicher, dass sich zahllose Zwerchfelle schmerzvoll krümmen. Ein köstliches Amüsement. Christopher Joseph Isaak durchlief offensichtlich die alte Schule der genre-universalen amerikanischen Entertainment-Standards und darf sich getrost in die Riege ihrer ganz großen Absolventen einreihen. Seine Revue tanzt Vegas-Style im Quickstep und kocht auch jeden anfänglich noch so steif-unsicheren deutschen Fan mit ebengleicher Leichtigkeit gar.
Jaha ... cool Chris, der in Kassenstürmern wie "Twin Peaks", "Little Buddha" und "Silence Of The Lambs" eine erstaunliche Filmkarriere hingelegt hat und im amerikanischen Fernsehen unter den Top Ten der Prime-Time-Unterhalter rangieren dürfte, ist der ausgemachte Prototyp jedes Model-Katalogs, Surfboard-Commercials oder Hollywood-Casters. So posiert er demonstrativ und versiert - mit eisblauem Blick und verstecktem Schalk im Nacken - für die zahlreichen Nikon-, Canon- und No-Name-Objektive der vorwiegend zu Höchstform auflaufenden Amateur-FotografInnen. Aber: Schluss mit dem Vorurteil des Frauenkonzerts! Nicht 80, wahrscheinlich nicht einmal 60 % ergaben den Anteil des zarten Geschlechts am Juni-Abend in Berlin. Bemerkenswert. Das Aha-Erlebnis begründet sich zum Beispiel im rauen, druckvollen "Go Walking Down There", von Chris' hervorstechendem Gitarristen in den Rausch eines 'Vodoo Chile' gespielt, das Isaak im roten, schnell entflammbaren Gewand endgültig zur Explosion bringt. In diesem Moment wird Jimi in seinem paradiesischen electric Ladyland verdammt aufgehorcht haben.
David Lynchs Kult-Road-Story "Wild At Heart" war es, die dem Romance-Spezialisten Chris Isaak (der »Lynch niemals auf seine Kinder aufpassen lassen würde«) dank Verwendung des von ihm komponierten Titeltracks für den Film zum Durchbruch und nachhaltigem Ruhm verhalf. Und nach wie vor ist "Wicked Game" das unumstrittene Trademark des surfenden Herzensbrechers aus Stockton/California. Berlin harrte auf diesen 'bösen' Augenblick, wie Chris auf das Forever-Girl seines Lebens, so sehr genießen die zum Teil weit Gereisten jene unverkennbaren, traumwandlerischen Kaskaden dieser sentimentalen, Saiten-streichelnden Elegie ...
Aus dem neuen Album des mittlerweile glücklich Gewordenen, spielt Mr. Lucky "Best I Ever Had", "Cheater's Town", "We Lost Our Way" ... diese musterhaft geschmeidigen, raffinierten Ohr-Würmer von exakt balancierter rhythmischer Substanz, die es schaffen, angesagten Westcoast-orientierten Mainstream zum exklusiven Stil-Sound zu veredeln. Unveredelten, fabelhaften Isaak-Soul katapultiert indes "I'll Go Crazy" in die völlig unvorbereiteten Gehörgänge, ein Stück, das der einst boxende, heute malende Musiker aus Leidenschaft als überraschende Hommage an James Brown mit einer dieser unglaublichen Anekdoten, die also auch das Chris-Leben schreibt, versieht.
"My Pretty Frollein" hebt den Spaß-Faktor in den nächsten Skalen-Bereich des germanischen Stimmungs-Barometers. Die Band hat sich's inzwischen mit Hocker, Akustik-Set und spartanischem Unplugged-Equipment gemütlich gemacht zum Chamber-Concert am Bühnenrand. Unterdessen setzt sich das pausenlose, extensive Foto-Shooting in der Pole-Position fort ... Es gilt, unendlich scheinende zwei Jahrzehnte Chris-loser Tristesse auszublenden, um nun die zeitlose Lichtgestalt des red over gold schimmernden Gentleman gebührend einzublenden ...
Man sei wohl nicht oft (genug) hier, konstatiert Chris Isaak und genau deshalb werde heute abend das große Extra-Menü serviert, bekräftigt der smarteste Verführer und erbarmungsloseste Romantiker unter den Rock'n'Rollern seine Intention. Die vereinbarte Playlist habe man vor 20 Minuten vergessen, was soll's, »wir spielen jetzt was uns gefällt, weil es uns so gut gefällt, hier!« Des Zuspruchs gewiss, stürzen sich die Silvertones in ein fulminantes Zugaben-Finale ..."Pretty Woman" ... "Blues Stay Away From Me" - ein letztes Orgel-Lehrstück ... "Blue Hotel" - das alarmierend rote Dressing tauscht der Beau hier stilsicher gegen den silber-spiegelnden Space-Suit, der die ideale Vorlage zu weiteren Späßen gibt, andererseits jedoch visuell den strahlenden "San Francisco Days" und dem kühlen, sanft ausklingenden "Blue Spanish Sky" in außerirdischem Maße gerecht wird ...
Beim bedächtigen Wieder-Ertasten des Bodens der Realität begegne ich einem Verrückten, ein mittelalterlicher Urtyp in Leder-Kluft, mit etwas verlebter Note und unmissverständlicher Rocker-Pose ... er krallt sich doch tatsächlich Stück für Stück eines riesigen Chris Isaak-Tour-Plakats von der Glasfront des Tempodroms.
Congratulations, Prince Charming! Was für ein grandios überzeugender, längst fälliger Einstand im renommierten Künstler-Verzeichnis von RockTimes!
Ein riesengroßes, herzliches Dankeschön an Tim von Paranoid World aus Dresden, der uns seine fantastischen Konzert-Fotos zur Verfügung gestellt hat! Und unser Dank geht auch an das Concertbüro Zahlmann für die kurzfristige Akkreditierung.
Setlist:
01:Lonely With A Broken Heart
02:Dancin'
03:Two Hearts
04:Somebody's Crying
05:Love Me Tender
06:I Want Your Love
07:Cheater's Town
08:Speak Of The Devil
09:Wicked Game
10:Go Walking Down There
11:Best I Ever Had
12:One Day
13:Big Wide Wonderful World
14:Worked It Out Wrong
15:We Lost Our Way
16:Take My Heart
17:Western Stars (dedicated to Western Berlin)
18:My Pretty Fräulein - incl:James Brown story
19:I'll Go Crazy
20:You Don't Cry Like I Do
21:Baby Did A Bad Bad Thing
Encore:
22:Blue Hotel
23:San Francisco Days
24:Pretty Woman
25:Blues Stay Away From Me
26:Blue Spanish Sky
Bilder vom Konzert
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