Jethro Tull
Aqualung - 40th Anniversary Special Edition
Aqualung - 40th Anniversary Special Edition Spielzeit: 43:09 (CD 1), 44:07 (CD 2)
Medium: Do-CD
Label: Chrysalis, 2011
Stil: Prog Rock

Review vom 27.11.2011


Holger Ott
Vierzig Jahre sind ins Land gegangen seit dieser Meilenstein der Musikgeschichte zum ersten Mal erschien. Lange gab es Jethro Tull zu dieser Zeit noch nicht und der Musikstil, in dem sich Mastermind Ian Anderson damals bewegte, war einzigartig. So einzigartig, dass diesem Stil ein neuer Name zugedacht wurde: schlicht und einfach 'Underground'. Auf der Tanzfläche der Clubs bewegten sich die jungen Leute, in dem sie auf den Knien rutschten und mit Kopf und Oberkörper entgegen dem Takt die wildesten Verrenkungen vollführten. Anderson ist bis heute ein Perfektionist der nichts dem Zufall überlässt. Seine klare, akzentfreie Stimme ist unter Millionen erkennbar, bis in die letzte Reihe verständlich, und verzaubert jeden sofort der sie zum ersten Mal hört. Bereits in den 60er Jahren haben sich verschiedenen Musiker von Klassik-Einflüssen leiten lassen und deren Instrumente in ihre Bands eingebracht. Anderson hat es aber durch seine Perfektion mit der Querflöte auf die Spitze getrieben. Viele Songs sind durch sein angehauchtes Vibrato schon an den ersten Noten erkennbar, damit hat sich der Meister unsterblich gemacht. Neben seinem Flötenspiel beeindruckt er auch heute noch mit dem Talent, Musikstücke minutenlang auf einem Bein stehend zu spielen. Inzwischen ist er zwar nicht mehr so ausdauernd, er kleidet sich auch nicht mehr so extravagant, aber durch seine optische Erscheinung während seiner Soli reißt er das Publikum nach wie vor zu Begeisterungsstürmen hin.
Jethro Tull-Konzerte waren immer ein Ereignis, standen sie jeweils unter einem bestimmten Thema, das stets zeitgemäß war. Zu Zeiten von "Aqualung" begann sich Anderson für das Mittelalter zu interessieren und bei den Shows trugen die Musiker oft ein entsprechendes Outfit. Gitarrenexperte und Andersons Begleiter seit dem zweiten Album, Martin Barre, hat auch heute noch den Hang dazu, deshalb kann man ihn oft auch als Gastmusiker in diversen Mittelalter-Shows erleben. Dieser Mann hat als einziger über vierzig Jahre dem Despoten Ian Anderson standgehalten, ja man dichtete den beiden zu damaliger Zeit sogar eine innige Männerfreundschaft an, die mehr als über gemeinsame Saufgelage hinaus ging. Da Gerüchte aber, wie man weiß, das Interesse schüren, scherten sich die beiden einen Dreck darum die Karten aufzudecken.
Nachdem die ersten Alben von Jethro Tull noch deutlich dem Folk zugewandt waren und hauptsächlich aus Akustik-Werken bestanden, gelang Anderson mit "Aqualung" der große Wurf, sozusagen sechs Richtige im Lotto mit lebenslanger Ausschüttung.
Schon der Titeltrack "Aqualung" hat es in sich und zeigt die Band im völlig neuen Rampenlicht. Anderson erzählt eine Geschichte über einen alten Mann, der kleinen Mädchen im Park beim spielen zusieht und dabei seiner Fantasie freien Lauf lässt. Heute würde man ihn schon alleine für den ausgesprochenen Gedanken verhaften. Die Musik dazu untermalt die Geschichte in höchster Kunst und wandelt sich dabei von sanft zu aggressiv.
Martin Barre spielt darin die beste Gitarre aller Werke, die Jethro Tull je veröffentlicht haben. Obwohl ich "Aqualung" bestimmt schon einige hundert Mal gehört habe, bekomme ich beim schönsten Gitarren-Soli aller Zeiten noch immer eine Gänsehaut. Thematisch passend war damals das Konzert in der Deutschlandhalle in Berlin. Der Saal ist stockdunkel, die Bühne mit einem schwarzen Vorhang verhangen. Etwas seitlich teilt sich der Vorhang und ein Spot leuchtet einen alten zerzausten Mann an, der mit gebückter Haltung über die Bühne schleicht, gekleidet in einem langen, verlausten Mantel, gestützt auf einen krummen Stock. Aus einem Augenwinkel seines gesenkten Hauptes blickt er immer wieder in Richtung der gebannten Zuschauer. Mit einem Ruck reißt er den Mantel auf, wirft den Stock zur Seite und auf seiner Gibson Les Paul stimmt er die Akkorde von "Aqualung" an. Der Vorhang fällt, Jethro Tull stehen auf der Bühne und präsentieren ihr damaliges Meisterwerk.
Vierzig Jahre später werden die Highlights des Albums, zu denen natürlich auch der Klassiker "Locomotive Breath" zählt, immer noch gespielt. Allerdings bilden sie lediglich die einzigen Zugaben der Konzerte von Ian Anderson und seinen Mannen.
Die Einflüsse von Folk-Musik sind natürlich auch auf dem Album unverkennbar. Stücke wie "Cheap Day Return" oder "Mother Goose" gehören eindeutig in diese Kategorie, während "Cross-Eyed Mary" und "My God" deutlich zeigen, wohin die Reise später gehen sollte.
Beide Songs sind zwar noch etwas weich gespült, aber bei Live-Konzerten werden sie von Martin Barres Gitarre eindeutig nach vorne getrieben. Auch heute gehören diese beiden noch immer zum Standardprogramm bei den Auftritten von Jethro Tull.
Was wäre aber eine 40th Anniversary Edition ohne eine besondere Zugabe? Auf der zweiten CD des Doppelpacks befinden sich die eigentlichen Raritäten für Sammler und welche, die es werden wollen. Dreizehn Tracks plus ein Radio-Interview mit Ian Anderson im Rahmen der Veröffentlichung von "Aqualung". Darin angespielt sind "Locomotive Breath" und "My God", wobei Anderson über Gott im Allgemeinen philosophiert.
Eröffnet wird die zweite CD mit dem Titel "Lick Your Fingers Clean", bei dem deutliche Anweisungen des Bandleaders an seine Musiker zu hören sind, die darauf hindeuten, dass im Übungsraum das Aufnahmegerät die ganze Zeit mitlief. Ebenso ist er bei der fast zehn Minuten langen Ur-Version von "My God" zu hören, die für damalige Verhältnisse bereits sehr heavy rüberkommt. Der Track trägt deutlich die Handschrift von Martin Barre, der mit seinen kräftigen Riffs klar die Richtung vorgibt. Diese längere Version ist die eindeutig bessere, hat aber vermutlich damals in dieser Länge nicht mehr auf die Rille der LP gepasst. Das Gleiche fällt bei "Wind-Up" auf. Auch dieses Stück ist in seiner Erstaufnahme das bessere, weil rockiger. Mit "Wond'ring Aloud, Again" liefern uns Jethro Tull eine wunderschöne Ballade und auch hier fragt sich der Hörer, warum diese damals nicht veröffentlicht wurde. Zum Glück kommen wir nun vierzig Jahre später in den Genuss.
Ab dem neunten Song ist eine deutlich bessere Aufnahmequalität zu spüren, bzw. zu hören.
Es handelt sich dabei um Werke neueren Datums, sozusagen als Bonustracks. Die Stimme des Protagonisten ist viel klarer und die Instrumente klingen reiner. Untermalt werden einige Songs von Streichern, natürlich aus den Tasten von David Palmers Keyboard.
Durch die häufigen Besetzungswechsel lässt sich leider nicht präzise zuordnen, wer bei welchem Stück gespielt hat. Das beigefügte Booklet ist zwar sehr ausführlich, nur lassen sich daraus weder Songtexte erlesen, noch welcher Musiker seine Finger an den Instrumenten hatte. Trotzdem ist diese 40th Anniversary Edition von "Aqualung" ein absolutes Must-have für jede Sammlung. Wer in seinem Herzen noch leidenschaftlich dem Vinyl zugetan ist, dem sei gesagt, dass es eine noch umfangreichere Ausgabe gibt, mit LP und Doppel-CD sowie einem Hardcover-Buch das besser bebildert ist.
Line-up:
Ian Anderson (vocals, flute, acoustic guitar)
Martin Barre (acoustic and electric guitar, banjo)
Jeffrey Hammond-Hammond (bass)
Clive Bunker (drums)
John Evan (keyboards)
Barriemore Barlow (drums)
Glenn Cornick (bass)
David Palmer (keyboards)
Tracklist
CD 1:
01:Aqualung (6:37)
02:Cross-Eyed Mary (4:07)
03:Cheap Day Return (1:18)
04:Mother Goose (3:50)
05:Wond'ring Aloud (1:52)
06:Up To Me (3:14)
07:My God (7:11)
08:Slipstream (1:08)
09:Locomotive Breath (4:38)
10:Wind-Up (5:59)
CD 2:
01:Lick Your Fingers Clean (2:45)
02:Just Trying To Be (1:37)
03:My God [Early Version, Previously Unreleased] (9:40)
04:Wond'ring Aloud [13th December 1970, Previously Unreleased] (1:48)
05:Wind-Up [Early Version] (5:18)
06:Slipstream [Take 2, Previously Unreleased] (0:52)
07:Up The Pool [Early Version, Previously Unreleased] (1:09)
08:Wond'ring Aloud, Again [Previously Unreleased] (7:04)
09:Life Is A Long Song (3:16)
10:Up The Pool (3:09)
11:Dr. Bogenbroom [Remastered] (2:58)
12:From Later [Remastered] (2:04)
13:Nursie [Remastered] (1:35)
14:US Radio Spot (0:51)
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