Wenn der Mitschnitt eines Live-Konzertes aus dem Jahre 1970 auf DVD veröffentlicht werden soll, dann wird ein Mensch wie ich, der genau zu dieser Zeit emotional sehr stark von der Rockmusik beeinflusst wurde, natürlich hellhörig. Wenn es sich bei diesem Mitschnitt auch noch um einen Gig beim größten Festival Europas auf der englischen Isle of Wight handelt, dann steigt das Interesse noch weiter. Und wenn es sich bei der Band um Jethro Tull handelt, dann gibt es absolut kein halten mehr. Diesen Silberling muss man einfach im Schrank haben, denn hier erlebt man Musikgeschichte pur. Obwohl die Band ja bis heute sehr erfolgreich unterwegs ist und inzwischen fast nicht mehr zu zählende Alben auf den Markt gebracht hat, ist dieses Konzert ein Tribute an ihre größte Phase.
Frisch, unverbraucht und roh gehen Clive Bunker (drums), Glenn Gornick (bass), John Evans (keyboards), Martin Barre (guitar) und Frontmann Ian Anderson (flute & vocals) hier zu Werke. Nicht umsonst sind Jethro Tull für ihre brilliante Bühnenshow bekannt.
Aushängeschild dafür natürlich der Mann mit der Flöte. Wie ein Derwisch fegt Ian Anderson über die Bühne, gewandet im rot / schwarz karierten Mantel, seinem Markenzeichen bis ihm das Kleidungsstück gehässiger
weise entwendet wurde, um dann immer wieder abrupt zu stoppen und in seinen Soloparts, auf einem Bein stehend, die Querflöte zu traktieren. Dieser Mann ist einfach nicht zu bremsen, und selbst wenn er nicht im
Mittelpunkt steht ist er allein durch seine Mimik allgegenwärtig, umschwänzelt seine Mitstreiter, treibt sie an, um dann punktgenau wieder in den nächsten Gesangspart einzusteigen. An den Reaktionen des Publikums ist zu sehen, wie sehr sie von der Band in ihren Bann gezogen wurden.
Die Songauswahl enthält mit "Bouree", das bis heute Bestandteil der Live-Konzerte ist, "We Used To Know" und "For A Thousand Mothers" drei Songs des Albums "Stand Up".
Die restlichen Titel sind auf dem Debutalbum "This Was" enthalten, darunter auch "Dharma For One" als Highlight, bei dem sich Clive Bunker als absoluter Spitzen-Drummer vorstellt und ein Solo vom Feinsten
hinlegt. Dazu kommt mit "My God" noch ein Werk, das später auf dem Album "Aqualung" erscheinen sollte. Dieses Stück beginnt mit einem wunderschönen akustischen Teil und enthält mittendrin eines der legendären Flötenparts des Meisters, in dem er die Zwiesprache zwischen seinem Instrument und der Stimme in unnachahmlicher Weise demonstriert.
Leider fehlen auf der DVD die beiden Songs "With You There To Help Me" und "To Cry You A Song" vom damals aktuellen Album "Benefit", die auf der Audio-CD enthalten sind, und bei denen sich John Evans am Piano und Martin Barre an den sechs Seiten richtig auslassen. Dafür ist mit "Song For Jeffrey" ein weiterer Titel aus dem Debut Album vertreten, der hier aber absolut fehl am Platz ist, wurde er doch beim Rock 'n' Roll Circus der Rolling Stones aufgenommen. Aber immerhin haben wir hier die
seltene Gelegenheit den späteren Black Sabbath Gitarristen Toni
Iommi bei seinem Kurzgastspiel in den Reihen von Jethro Tull zu bewundern.
Zwischen den einzelnen Songs bezieht Ian Anderson in einem aktuellen Interview Stellung über das legendäre Festival und zieht Vergleiche zwischen damals und heute. Mit Luftaufnahmen wird die ganze Größe des Festivalgeländes beeindruckend sichtbar gemacht, und auch die diversen Probleme, die innerhalb des Publikums immer wieder zu Spannungen führten, werden angesprochen und dokumentiert. Gut und interessant auch Bilder vom Soundcheck der Band, sowie den Streitgesprächen von
Manager Terry Ellis mit den Veranstaltern.
Also eigentlich alles wunderbar, oder? Nicht ganz! Für mich wird für eine Live DVD eindeutig zu wenig Musik gebracht. Ein ungefähres Verhältnis von 50:50 zwischen Wort und Live Musik ist mir einfach zu wenig. Außerdem hätte ich mir mehr als nur 80 Minuten Gesamtlaufzeit gewünscht. Die noch enthaltene Photo-Galerie enthält einige sehr schöne schwarz/weiß-Bilder der Band, aber auch hier dürfte es etwas mehr sein.
Trotzdem soll jetzt auf gar keinen Fall der Eindruck entstehen, diese DVD ist nichts Besonderes. Im Gegenteil:
Sie ist für Leute, die in dieser Zeit mit der Rockmusik groß geworden sind, ein unersetzliches geschichtliches Dokument. Nur eben nicht ganz perfekt!
Spielzeit: 80 Minuten, Medium: DVD, Eagle Rock Entertainment Ltd., 2004
1:Bouree 2:My Sunday Feeling 3:A Song for Jeffrey 4:My God 5:Dharma For One 6:Nothing Is Easy
7:We Used To Know / For A Thousand Mothers
Jürgen Bauerochse, 13.05.2005
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