"In Kino veritas", so ähnlich behaupteten es schon die alten Römer. Der Spruch stimmt auf diese Band bezogen hundertprozentig. Wahre, ehrliche, handgemachte Musik gibt es in der Spätvorstellung. Im Waschzettel steht was von "mit Prog-Elementen" und "anspruchsvolle Rockmusik". Und wieder stimmt es, denn genau das bieten Kino auf ihrem Debütalbum "Picture".
In den Hauptrollen hören wir vier Musiker, die aus der Progressive-Rockszene wohlbekannt sind. John Beck versetzt die Arrangements mit verspielter und versierter Tastenarbeit. Mehr Freiraum als bei seiner Stammtruppe Arena erhält Gitarrist John Mitchell. Im Kino fungiert er nämlich auch als Vocalist. Sein Gitarrenspiel ist virtuos wie immer. Er beweist Feeling und profunde Technik.
Von Marillion ausgeliehen wurde Basser Pete Trewavas. Seit es Transatlantic nicht mehr gibt, war er wohl auf der Suche nach einer weiten Rolle. Bei Kino ist er also fündig geworden und die Band profitiert von seinen akzentuierten Bassläufen. Last but not least vervollständigt Trommler Chris Maitland die Equipe. Vor diesem Engagement hat er bei Porcupine Tree die Felle gegerbt. Im Abspann taucht aber noch ein weiterer Name auf. InsideOut- Boss Thomas Waber brachte diesen Streifen erst zum rollen, weil er John Mitchell den Floh ins Ohr setzte "etwas Ähnliches wie bei The Urban, jedoch mit etwas mehr Prog Attitüde zu machen".
Wir empfehlen Logenplätze einzunehmen, um sich ganz auf Musik einlassen zu können. Die Platte benötigt ihre Zeit, und man sollte sie ihr gewähren. Mal dominieren treibende Passagen, mal verspieltere Abschnitte. Die Musik ist abwechslungsreich, wobei sie zu keiner Zeit darum bemüht klingt. Die zahlreichen breaks in den Songs sind nie erzwungen, sondern ergeben sich aus der kompositorischen Logik. So sollte es doch eigentlich immer sein und so ist es bei Kino.
Die Anspieltipps:
Druckvoll geht es los mit "Losers Day Parade". Nach dem starken, pulsierenden Intro legt Mitchell eine flott gesungene Strophe nach. Zwischendurch entspannen fast operettenartige Abschnitte die Dramaturgie. Besonders toll kommen die leider viel zu kurzen Vocals der Gastsängerin. - Anmerkung: Nach 24 in Echtzeit verstrichenen Stunden entpuppt sich "Losers Day Parade" als richtiger Ohrwurm. Hätte ich gestern noch nicht gedacht.
Mit einer Pianomelodie beginnt "Swimming in Women". Der ganze Song und insbesondere das Klangbild der Gesangsharmonien, inklusive des wirklich starken Chorus gehen sehr in Richtung Supertramp.
"Holding On" baut sich langsam auf. Sachte, fast schon leise ist sein Anfang. Den ersten Höhepunkt markiert ein kurzes Gitarrensolo, bei dem John Mitchell stellenweise wie Steve Howe agiert. Ab diesem Part nimmt der Song Fahrt auf und nacheinander werden schöne Melodiebogen gespannt. Ja, insgesamt gesehen animiert mich "Holding On" mal wieder unter Y im Plattenregal zu wühlen und das eine oder andere Yes-Werk in den Spieler zu stopfen.
"Picture" ist hervorragend produziert. Das ist bei dieser Art von Musik aber auch ein Muss und braucht deswegen eigentlich gar nicht weiter erwähnt zu werden. Weil guter Sound auch heutzutage leider immer noch nicht selbstverständlich ist, wollen wir trotzdem darauf hinweisen.
Die Band bietet kein Popkorn- oder Pantoffelkino. Eher wird der Musik wohl die Bezeichnung Programmkino gerecht. "Picture" ist anspruchsvoll geworden und ambitioniert. Nach nur einer CD ist es zu früh, jetzt schon von einer neue Progressive Rock Supergroup herum zu schwafeln, aber in dieser Form werden Kino noch für Furore sorgen. Mal sehen, wie sie sich live präsentieren. Für alle neugierigen Kinogänger gibt es "Picture" neben der regulären Ausgabe noch als Digipak mit einer Bonus DVD, auf der die Höhepunkte der Show im Rockpalast digitalisiert sind.
Wer sich lieber Livekino reinzieht, sei auf die kommende Tour mit Spock's Beard hingewiesen.
Was bleibt noch, außer eine angemessene 8 auf der Wahnwirtz-Skala zu vergeben?
Spielzeit: 54:59, Medium: CD, InsideOut Music, 2005
1:Losers Day Parade 2:Letting Go 3:Telling Me To Tell You 4:Swimming In Women 5:People 6:All You See 7:Perfect Tense 8:Room For Two 9:Holding On 10:Picture
Olli "Wahn" Wirtz, 19.02.2005
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