»Wie sieht er eigentlich jetzt aus?« wundert sich der neugierige Jungspund neben mir. »Ich kenn' ihn ja nur, wie er mit Anfang 20 aussah...« ergänzt er fachmännisch rätselnd.
Jerry, ehemaliger Priesterschüler, 'Kinderräuber', Elvis' Rivale in Sachen Rock'n'Roll-King-Anwartschaft und Chuck Berrys Konkurrent als Bürgerschreck, später dann: Ehrwürdiger Country-Star. Ein lebender Widerspruch in allen Facetten seiner Persönlichkeit. Und so sah er aus mit 22 - ein blondgelockter Teufel an seinem schneeweißen, manchmal auch pechschwarzen Flügel, mondän frisiert bis die mächtige Tolle ihrer zementiert geglaubten Position wich, wenn sich das flammende Inferno, sprich Piano unter seinen Händen in erdbebenartige Schwingungen versetzte.
Was stachelt ihn an, auch heute noch für denkwürdige seismografische Messungen rund um den Globus zu sorgen? Was ist das für ein Ding, das Großväter mit ihren Enkeln zu unkontrollierten, tanzwütigen Ausbrüchen vor weltweiten Bühnen zwingt? Oder - wie ebenso an diesem unendlich trüben Novemberabend in Berlin geschehen - fliegende Petticoats und schnittige Lederjacken in ein prächtiges, monumentales Zirkuszelt im Herzen der Stadt lockt? Ist es das Zelt? Von außen betrachtet futuristisch anmutend, hat das Tempodrom im Inneren diesen Charme von Unmittelbarkeit, einen besonderen Live-Charakter, den die festliche Kuppelbauweise und die runde, aus jedem Blickwinkel vollkommen sichtfreie Konstruktion dieses Konzertareals offenbart.
Oder ist es das gleiche Ding, das ich vor exakt drei Jahren Chuck Berry habe am gleichen Ort vollführen sehen und hören? Lewis' längstjähriger, alter Mitstreiter teilt sich heutzutage mittlerweile so manches Höllen-Podium kollegial mit dem Killer. Doch was treiben sie da nur? Etwas mit Frauen auf jeden Fall. Nein, nein - wir sind ja hier bei RockTimes... Berry hatte damals Töchterchen Darlin' Ingrid dabei, die den Vater höchst talentiert begleitete. Jerry Lee mag es auch familiär und hätte aus seinen sieben immerhin zur Auswahl stehenden Ex-Frauen eine erstaunliche Jam-Band zusammenstellen können. Ein schwer kalkulierbares Risiko, das der erfahrene Womanizer dann doch scheute und stattdessen lieber sein Feuerwerk von 'kleiner' Schwester (61) mit nach Berlin brachte.
Ms. Linda Gail Lewis steckte mit "Good Golly Miss Molly", "Blue Suede Shoes" oder den leicht zu erratenden "Eighty Eight Friends" in professionellster Weise genau das Feld ab, auf dem Jerry Lee anschließend seine teuflische, diesjährige Herbstsaat auslegen wollte und sollte. »Warm up« nannte sie ihren verblüffenden Vorgeschmack auf des Bruders meisterhafte, handwerkliche Künste. Die Lewis-Geschwister scheinen von Natur aus fingerfertige Wunderkinder zu sein, die ihre manuellen Fähigkeiten wiederum durchweg auf allen denkbaren Gliedmaßen und Körperteilen anwenden können. Linda Gail bevorzugte den Fuß ihres rechten Beins ergänzend zur Begrüßung der 88 Freunde einzusetzen und kommentierte ihre unbändige Spielfreude - ihre herausragende Spielklasse - entschuldigender Weise: »Oh, ich muss mich benehmen, bin schließlich in den Sechzigern«! Eine Show zum Anfassen, Humor zum Greifen, amüsante Wortbälle fürs Publikum. Spitzenunterhaltung der alten Schule und zweifelsohne besten Güteklasse bietet die Little Sister mit ihrer saalregierenden Kampfstimme.
Die Aufgabe der 'Erwärmung' hatte Ms. Lewis nach einer guten halben Stunde zu 150 % bei gefühlten 50 Grad Körpertemperatur mit Auszeichnung übererfüllt. Bruder und Arbeitgeber Jerry konnte zufrieden sein aufgeheiztes Publikum förmlich entgegennehmen, um es mit seiner eingefleischten Tennessee-Supertroup an den Saiten und Sticks für den feurigen Hauptgang der "Great Balls Of Fire" garzukochen. Chefkoch Lewis selbst präsentiert sich 20 nach 9 in seiner perfekt vorbereiteten Abendküche.
In bedachten Schritten trägt sich der Zeremonienmeister, geprägt vom allseitig exzessiv erprobten Leben, die kleine Treppe hinauf zu seinen 'Eighty Eight Friends', die ihn samt empörender wie triumphaler 'whole lotta shakes' in den Fünfzigern der Hölle ein beträchtliches Stück näher gebracht haben dürften - nach ruinösem Privatleben, skandalöser Cousinen-Hochzeit und unbarmherzig folgendem, abrupten Karrieresturz zugleich jedoch seine wundersam kathartische Rettung aus dem tiefschwarzen Tal zurück ins Lebensreich des Country bedeuteten. Spürbar manifestiert sich die geballte Kraft des Unverwüstlichen, des letzten Überlebenden des legendären Million Dollar-Quartets von 1956 (bestehend aus Johnny Cash, JLL, Carl Perkins, Elvis Presley) - eine Kraft mit der Lewis am Abend des 4.11.2008, inzwischen 73-jährig, wieder sorgfältigst über Beethoven rollt und Großvater plus Enkelsohn, Halbstarke und Petticoats in den Wahnsinn treibt.
"C.C. Rider" folgt überraschend und fährt, zur allgemeinen Abkühlung der Gemüter, wie ein gestandener, gut geölter Cadillac gemächlich über Jerrys Tasten. "Before The Night Is Over" nimmt wieder an Fahrt auf und des Killers Finger fliegen, die Haare - füllig, nicht mehr ganz so blond - aber liegen am stylistseitig vereinbarten Platz. Äußerlich beinahe regungslos, doch stimmlich robust, probt der Showman den seriösen Aufstand ohne flambiertes Klavier, dafür wieder mit Linda Gail, die ihn zusammen mit der Memphis-Nashville-Section furios bei Ray Charles' "What'd I Say" unterstützt.
Grandioses High Class-Entertainment, das die verzückt zuckende Gemeinde vor der Bühne zu fassen versucht. Ehe sie Zeit dazu hat, rollen schon die 'Feuerbälle' ins Kolosseum. 'Die Luft brennt' ist der Zustand, dessen Ausdruck in diesem Moment neu definiert wird. Ein Gassenhauer der Generationen, doch was für ein unbeschreiblich originäres Gefühl, es vom Urheber des Feuerspektakels persönlich zu hören - was heißt hören - in die Tasten stakkatiert zu bekommen.
"Whole Lotta Shakin' Goin' On" gipfelt in eben dieser Manier und erntet die abermals verdienten Beifallsstürme. Das muss es sein, dieses Ding, das uns alle irre macht seit fünfzig Jahren. Und es lebt! Der verdammte alte, graue Wolf Rock'n'Roll reißt noch immer alle chicks along the way. Der Hocker fliegt, Jerry lächelt, er setzt sich - angesichts der im Weltinteresse dieses Abends liegenden US-Wahlkampfentscheidung Obama/McCain pikant bezeichnend - kurz auf glühend' Ebony and Ivory. Dann winkt er und geht...
Wir raufen uns die Haare. Himmel, ja, er war es wirklich. »We want more!«? Nein, gewährt er nicht. Er ist sie ja selbst, die fleischgewordene, gnadenreiche Zugabe des Rock'n'Roll.
RockTimes bedankt sich bei N. Jänichen von Berlinkonzerte für die Akkreditierung.
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