Jeder kennt das sicherlich: Wird man mit im ersten Moment ungewöhnlicher oder gar unverständlicher Musik konfrontiert, können zwei Blicke ungemein behilflich sein, nämlich auf Titel und Cover, um mögliche Rückschlüsse auf die Beweggründe des bzw. der Komponisten zu koppeln...
Das vorliegende dritte Album Moraines, "Groundswell" betitelt, ziert das Bild einer, von den Dünungen des Ozeans umgebenen Vulkaninsel. Eruptiv, das Innere nach außen kehrend, ist auch der überaus progressive Jazz, den dieses Quintett aus Seattle hier zelebriert. Mal explodiert die musikalische Lava, wilde Funken sprühend, aus Moraine - mal fließt sie zwar zäh, aber unaufhaltsam alles niederwalzend... angsteinflößend, doch zugleich von faszinierender Schönheit... ein Grauen, von dem man den gebannten Blick nicht abwenden kann! Die Hinterlassenschaften können, wenn sie erkaltet sind, durchaus - den Blick von oben gerichtet - als wellenartige Dünungen (engl: groundswell) wahrgenommen werden. Auf diesen teilweise bedrohlich wirkenden Wellen lassen Moraine ihre Hörer via "Groundswell" reiten...
Moraine entpuppt sich auf "Groundswell" als unerschöpflicher musikalischer 'Hot Spot'. Das zutage Geförderte ist mal mehr, mal weniger spannend - in jedem Fall aber hochgradig überraschend. Auf die Suche nach Songstrukturen sollte sich der Hörer nicht begeben - es existieren keine, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Die Stücke basierend auf Grundthemen, die in sich beständig ändernden Formen repetiert werden und dabei teils meditative Muster entwickeln.
Stilistisch lässt sich das Phänomen Moraine ebenfalls nicht auf eine Stilrichtung fixieren. Jazz wird zumeist in wirklich SEHR befreite Formen gegossen, deren äußerste Begrenzungen progressive (gelegentlich sogar krautrockige) Rock- und Folk-Elemente sowie orientalische Klangfarben bilden. Drei Akteure repräsentieren diese drei musikalischen 'Kanten' - vor allem, wenn sie sich solistisch in den Vordergrund spielen: Gitarrist Dennis Rea (Prog Rock), die Violinistin Alicia DeJoie (Folk) und der Holz- und Blechbläser James DeJoie (orientalische Musik). Gelegentlich, wie bei "Waylaid", verschmelzen die Instrumentalpassagen der fünf Musiker allerdings zu einer einzigen wabernden Einheit, aus der dann kaum noch eine Melodie auszumachen ist. Hier ergießt sich die musikalische Magma im unendlichen Meer des Free Jazz...
Völlig neu ist diese Herangehensweise sicherlich nicht, zahlreiche Bands arbeiteten auf diese Weise. Gerade hierzulande fallen mir da sofort Namen wie Embryo, Moira oder auch Missus Beastly ein.
Moraine, verschütten ihre Klangfarben quasi 'eimerweise' auf einer Leinwand und führen den Pinselstrich mit einem Küchenschrubber durch. Das musikalische Erlebnis erscheint bisweilen randomisiert - aber mitnichten! Wenn man seine Schablonen im musikalischen Langzeitgedächtnis erstmal weggeworfen hat, kann richtig Spaß an der reichhaltigen Experimentierfreude und dem hohen improvisatorischen Geschick der Musiker aufkommen.
Klebrig und doomig-zäh kriecht "Mustardseed" schwerblütig aus den Boxen - alles andere als ein bequemer Einstieg in "Groundswell". "Skein" nimmt traditionelle Jazzmuster und -rhythmiken auf, verfremdet sie aber mit ziemlich schrägen solistischen Einlagen. Diese Dissonanzen, hier vornehmlich vom Ehepaar DeJoie erzeugt, haben allerdings System und Groove - besonders schräg in "Gashville" ausgeprägt. In "Fountain Of Euthanasia", einer Eigenkomposition von Alicia De Joie, erinnert der 'Geigenstrich' der Dame ziemlich frappierend an Allan Sloan, den Originalgeiger der Dixie Dregs. Gemeinsam mit dem stillen "In That Distance Place", erneut von der Violine dominiert, gehört dieser Song zu den stärksten von "Groundswell".
Ein weiteres typisches Stilmittel von Moraine sind unisono gespielte Läufe aller beteiligten Musiker in zahlreichen Stücken. Es erzeugt einen eigenartigen Druck, wenn Bass und Schlagzeug sowie Gitarre, Saxofon und Violine ein- und dieselben Figuren stetig wiederholen.
James DeJoie zeichnet kompositorisch für zwei Nummern verantwortlich: Den ziemlich freejazzigen Trip "Synecdoche" dominiert er mit seinem Baritonsax, während er die Band in "Spiritual Gatecrasher" in großen weiten Bögen agieren lässt und dem Hörer Friedemann Joschs Flötentöne beibringt (um hier mal diesen umgangssprachlichen Ausdruck anzuwenden).
Als schwer verdauliches 'Monster' stellt sich das eingangs erwähnte "Waylaid" heraus. Vor allem der wenig inspiriert vor sich hindümpelnde Mittelteil - hochfrequenzig zirpende Synthesizergeräusche zermürben - zerrt hier gewaltig am Nervenkostüm. Da erscheint es überaus erholsam, zum Ausklang mit "The Okanogan Lobe" mal wieder zu einem anständigen Groove, beim dem es sich (endlich) mitwippen lässt, aus einem insgesamt betrachtet guten Experimental-Album geleitet zu werden.
MoonJune Records, vielleicht DAS Qualitätslabel für progressiv-experimentelle Fusion, hat mit Moraines "Groundswell" seinen Status mal wieder gefestigt, gleichzeitig aber einen extrem harten 'Kanten' vorgelegt. Auf dieses Album muss man sich einlassen - sonst geht nix! Danach kann die Musik mit jedem Hördurchlauf wachsen...
Line-up:
Alicia DeJoie (electric violin)
James DeJoie (baritone saxophone, flute)
Kevin Millard (NS stick bass)
Dennis Rea (guitar, electronic interventions, mellotron)
Tom Zgonc (drums)
Tracklist |
01:Mustardseed (3:11)
02:Skein (3:52)
03:Fountain Of Euthanasia (3:25)
04:Gnashville (4:12)
05:In That Distant Place (6:20)
06:Synecdoche (3:52)
07:The Earth Is An Atom (5:12)
08:Waylaid (7:20)
09:Spiritual Gatecrasher (7:18)
10:The Okanogan Lobe (7:41)
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